Neuerscheinung eines Klassikers: Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs von Theodor Lessing

Zu den bekanntesten und vor allem berüchtigtsten Serienmördern Deutschlands zählt zweifellos Friedrich „Fritz“ Haarmann (1879–1925). In den Wirren der Nachkriegszeit und der Inflation tötete er zwischen 1918 und 1924 in Hannover mindestens 24 junge Männer. Seine Verbrechen wurden in zahlreichen Publikationen beschrieben, 1995 in „Der Totmacher“ mit Götz George in der Hauptrolle verfilmt und schließlich sogar als Comic veröffentlicht. Umfangreich dokumentiert wurden Leben, Verbrechen und Psyche des Serienmörders Haarmann in dem 1995 von Christine Pozsár und Michael Farin herausgegebenen Band „Die Haarmann-Protokolle“.

Haarmann wird zum Gerichtssaal geführt. Haarmann wird zum Gerichtssaal geführt.

Eine herausragende Veröffentlichung jedoch stellt das 1925 erschienene Buch „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ von Theodor Lessing dar, das hiermit wieder einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht werden soll.

Theodor Lessing wurde am 8. Februar 1872 in Hannover als Sohn eines jüdischen Ehepaares geboren. Seine Eltern – der Vater war Arzt, die Mutter Bankierstochter – gehörten dem gehobenen Bürgertum an. Er zählte mit seinen Artikeln, Essays, Glossen und Feuilletons zu den bekanntesten politischen Schriftstellern der Weimarer Republik und setzte sich nachdrücklich für die Frauenrechte und die Rechte der kolonisierten Völker ein. Der jüdische Philosoph litt zeitlebens unter dem „Trauma der Vergeblichkeit allen Denkens und Aufklärens“.

Schon früh von Mißerfolgen heimgesucht, wurde der begabte, aber radikale und unbequeme Schriftsteller zum Außenseiter gestempelt. Vergeblich bemühte er sich um eine Habilitation. 1907 wurde er Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover und blieb es für achtzehn Jahre. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er als Lazarettarzt und Lehrer. In diesen Jahren verfaßte er ein Grundlagenwerk über die erkenntniskritischen, geschichtspsychologischen und ideologischen Voraussetzungen des historischen Gedächtnisses, das 1919 unter dem Titel „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ erschien. Gemeinsam mit seiner engagierten Frau Ada, einer aktiven Sozialdemokratin, gründete er 1919 die Volkshochschule in Hannover.

Zwischen 1923 und 1933 publizierte Lessing unermüdlich, darunter auch ein Werk über Nietzsche, dem er sich geistes- und wesensverwandt fühlte. Dabei wurde er als Verteidiger der jungen Republik seitens der Reaktion scharf angegriffen und als „jüdische Demokröte Lessing“ verunglimpft. 1925 wandte er sich gegen Hindenburg, den damaligen Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten. Viele Studierende forderten daraufhin Lessings Entlassung. Eine sich anschließende antisemitische Hetzkampagne führte dazu, daß Lessing seine Lehrtätigkeit einstellen mußte. 1932 warnte der Philosoph: „Seht Ihr denn nicht, daß unsere Kriege, ja daß schon der Wehr- und Soldatenstand uns mit Sicherheit in die Selbstvernichtung treibt?“ Die Feindschaft des Schriftstellers Thomas Mann, die durch die sogenannte Lublinski-Affäre ausgelöst worden war, belastete ihn zusätzlich.

Jude zu sein hielt er für ein Symbol, für die Tragödie des Menschen schlechthin. Er prägte den Begriff „jüdischer Selbsthaß“.

Bekannt wurde Theodor Lessing zudem durch seine juristisch weitblickende und psychologisch meisterhafte Berichterstattung über den Gerichtsprozeß gegen den „Massenmörder“ Haarmann. Die Verhandlungen dauerten vom 4. bis 19. Dezember 1924, wobei das Gericht 14 Sitzungen abhielt. Haarmann war wegen Mordes an 27 Menschen in den Jahren 1918 bis 1924 angeklagt. Neun Taten gab er zu, weitere zwölf Tötungen hielt er für möglich. Sechs Taten bestritt er, doch konnten ihm fünf nachgewiesen werden. Die Zahl der vermißten Jungen belief sich auf 27, sie alle waren zwischen zehn und 22 Jahre alt. Friedrich Haarmann wurde zum Tode verurteilt und am 15. April 1925 durch den aus Magdeburg stammenden Scharfrichter Carl Gröpler im Hof des Gerichtsgefängnisses in Hannover mit dem Fallbeil enthauptet. Die sterblichen Überreste seiner Opfer hingegen fanden im Februar 1925 ihre letzte Ruhestätte in einem Ehrengrab auf dem Stadtfriedhof in Hannover-Stöcken.

Haarmanns Dachwohnung, in der er seine Opfer umbrachte.Haarmanns Dachwohnung, in der er seine Opfer umbrachte.

Die monströsen Taten des Serienmörders Fritz Haarmann entsetzten nicht nur seine Zeitgenossen, sie überforderten auch das hannoversche Schwurgericht. Es weigerte sich, die Hintergründe der bestialischen Morde Haarmanns, übrigens ein von den Behörden geschätzter Polizeispitzel, aufzuklären. Die Presse wiederum nährte genüßlich die Sensationsgier der Bevölkerung. Einem Schlager gleich trällerte man in den Straßen: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Hackefleisch aus dir.“

Lessing wurde vom Schwurgericht als Sachverständiger abgelehnt. Später schloß man ihn auch als Prozeßbeobachter aus. Doch die Analyse des „Phänomens Haarmann“ zeichnete er genauer als seine Zeitgenossen und Kollegen. „Kaum jemals ist ein bedeutender Prozeß unfähiger, kleinlicher und törichter geführt worden.“ Das gegen Haarmann gefällte Todesurteil kritisierte er und problematisierte die Zurechnungsfähigkeit des Verurteilten. Er glaubte, daß seine „Darstellung des Kriminalfalles älter werden würde als die Akten des Gerichts und in irgendwelchen denkenden und forschenden Köpfen zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen“ müsse.

Lessings Fazit: In dem modernen Menschen lauere ein mörderisches Tier, aggressiv wie Haarmann, gezähmt nur durch kulturelle Anstrengung. Gerate eine Gesellschaft – wie die nach dem Ersten Weltkrieg – aus den Fugen, komme die Bestie an die Oberfläche.

„Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ erschien erstmalig 1925 im Verlag Die Schmiede in Berlin, dann erneut 1973 und 1995 kommentiert von Rainer Marwedel (bei dtv), im Jahre 1996 sogar in einer italienischen Übersetzung. 1990 erinnerte das ZDF an das Verfahren gegen Haarmann und an den Prozeßbeobachter Theodor Lessing, und seit 1995 unternimmt es der Donat-Verlag in Bremen, eine sechsbändige Reihe mit ausgewählten Schriften von Theodor Lessing zu edieren. Zwei Bände sind bereits erschienen. Gegenwärtig arbeitet die Leibniz Universität in Hannover mit den Professoren Rainer Marwedel und Alexander Kosenina an einer monumentalen Theodor-Lessing-Werkausgabe.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten emigrierte Theodor Lessing nach dem tschechoslowakischen Marienbad. Auf das Gerücht, die Nationalsozialisten hätten eine Kopfprämie von 80.000 Reichsmark auf ihn ausgesetzt, reagierte er nur mit der Feststellung: „Mein Gott! Was habe ich ein langes Leben lang über meinen Kopf hören müssen. Auf der Schule hieß es, er sei kein Lernkopf. Auf der Universität, er sei ein Wirrkopf. Die Kollegen sagten, ein Querkopf. Ein Kritiker schrieb, er sei kein politischer Kopf, ein anderer, kein historischer Kopf. Wieder andere: meinem Kopf fehlten gewisse Organe. Das Organ für Metaphysik, für den Mythos. Für das Kosmische. Für Mathematik. Kurz: Alles an meinem Kopf war negativ! Ich zerbrach mir den Kopf und verdiente nichts damit. Und nun achtzigtausend Reichsmark. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß mit meinem Kopf so viel zu verdienen wäre.“

Am 30. August 1933 wurde er von zwei sudetendeutschen Nationalsozialisten in Marienbad aus dem Hinterhalt erschossen.

Joseph Goebbels verwies wenige Tage nach Lessings Tod auf dem Nürnberger Parteitag auf die erfolgreiche „Abschüttelung dieses Jochs“. Bereits wenige Stunden nach dem Mord meldete die in Hannover erscheinende „Niederdeutsche Zeitung“: „Mit Prof. Lessing ist eine der übelsten Erscheinungen der Nachkriegszeit aus dem Leben geschieden. Er gehört zu jenem Teil der Professorenschaft, der mit einem intellektuellen Pazifismus die deutschen Hochschulen verseuchte. Nun ist auch dieser unselige Spuk weggewischt.“

Der unveränderte Nachdruck dieses Klassikers erschien als Band IV der Historischen Kriminal-Bibliothek im Verlag Kirchschlager.