Zur Konstruktion und Funktion der Runneburg-Blide (Teil 2)

Einführung

Während der Belagerung der landgräflichen Runneburg in Weißensee zur Erntezeit des Jahres 1212 durch Kaiser Otto IV. kam eine den Deutschen bislang unbekannte Steinschleuderwurfmaschine zum Einsatz, die offensichtlich aufgrund ihrer verheerenden Wirkung und Leistungsfähigkeit von einem Erfurter Chronisten respektvoll „teuflisches Werkzeug“ genannt wurde. Ob Wolfram von Eschenbach, der nachweislich in Thüringen wirkte, der Maschine des Kaisers mit dem als driboc bezeichneten Kriegsgerät in seinem „Willehalm“ ein literarisches Denkmal setzte, muß dahingestellt und ein Forschungsfeld der Altgermanistik bleiben.

Während der bauarchäologischen Untersuchungen auf der Runneburg in den 1990er Jahren durch Thomas Stolle wurden vier sogenannte Blidensteine ausgegraben, die stratigrafisch dem 13. Jahrhundert zugeordnet werden konnten. Damit lagen eindrucksvolle Zeitzeugnisse der kaiserlichen Belagerung vor.

Die Runneburg-Blide war Zeit ihres bestehens ein Publikumsmagnet. Hier ein Bild während einer der zahlreichen Wurfveranstaltungen. Vorn einer der vier Blidensteine des Kaisers. (Bild: Runneburgverein Weißensee / Thür. e. V. i. L.)

Auf Beschluß des Vorstands des Runneburgvereins Weißensee / Thür. e. V. ging man mit Unterstützung durch den Ingenieur und Blidenkonstrukteur Werner Freudemann aus Frankfurt am Main und dem Ingenieur Hartmut Scheibner aus Weißensee daran, eine Steinschleuderwurfmaschine nachzubauen, die technisch in der Lage war, die Steine des Kaisers über eine Distanz von mindestens 300 Metern zu werfen, und die mittelalterlichen Bild- und Textquellen entsprach. Als Standort für den Bau und den Einsatz der Wurfmaschine wurde ein Rasengrundstück im südwestlichen Bereich der Burg ausgewählt.

Mit dem Nachbau einer Blide auf der Runneburg in den Jahren 1994 bis 1997 ergaben sich neben der touristischen Nutzung die Möglichkeit nähere Untersuchungen zur Konstruktion, Funktionsweise, Gebrauch, Wartung, Leistungsfähigkeit sowie zur militärischen Nutzung und den Einsatzmöglichkeiten der mittelalterlichen Gegengewichtswurfmaschinen vorzunehmen.1 Bisher wurden – weit vor den Runneburgern – schon einige Nachbauten vorgenommen, angefangen 1850 in Frankreich mit Louis Napoleon Bonaparte (ab 1852 Kaiser) über Gohlke, Payne-Gallwey, Hill, Chevedden und den Experimentalarchäologen in Nykobing.2 Es „ergaben sich bei kleineren Modellen (!) mit Wurfarmlängen von 15 Metern und einem Gegengewicht von 20 Tonnen für 150 Kilogramm schwere Steine Wurfweiten bis zu 300 Metern.“3 Bisher lieferten also alle maßstabsgetreuen Nachbauten mittelalterlicher Bliden4 den Nachweis, daß die imposanten Maschinen durchaus fähig waren, schwere Steine, meistens Steinkugeln, die sogenannten Blidensteine, problemlos über eine Distanz von 300 bis 500 Metern zu werfen. Wurfweiten und Treffgenauigkeit (bei einer mehr als geringen Seitenabweichung) ließ sich ebenso bei zahlreichen Experimenten mit Modellen nachweisen.

Nach den Berechnungen von Werner Freudemann wäre die Runneburg-Blide bei vollem Gegengewicht (beweglicher Kasten plus festmontierte Bleigewichte am Rutenende) mit einem Gesamtgewicht von 20 Tonnen in der Lage gewesen, 90 Kilogramm schwere Blidensteine 600 Meter weit zu werfen – und das treffsicher.5

Doch trotz dieser beeindruckenden Ergebnisse unter Anerkennung der Wurfleistung wurde der hauptsächliche militärische Nutzen von der Forschung bisher nur unzulänglich erkannt oder unterschätzt. Ganz offensichtlich hielt man den Kommentar des kriegserfahrenen Wundarztes Konrad Kyeser für Übertreibung, als der in seinem „Bellifortis“ von 1404 die Wurfleistung einer großen Blide beschrieb: „Das ist eine große Blide, mit der alle Befestigungen erobert werden / denn sie wirft Steine, zerspaltet Türme und Mauern / Zerstört Marktflecken, Burgen, Städte und Gemeinden.“6

Bernhard Rathgen schrieb der Blide 1928 folgende Aufgaben zu: „Die Blide sollte als Hauptaufgabe Deckungen, Häuser und Gewölbe von oben her durchschlagen, sollte hinter Mauern oder sonst verdeckt aufgestellte Pulver- und Fernwaffen außer Gebrauch setzen oder sollte Brandgeschosse ins Innere einer Burg oder Stadt schleudern; sie sollte mit Aas und Kot, mit faulendem Käsewasser und vergorenem Urin die Brunnen unbrauchbar machen und das gesamte innere Leben der Belagerten schädigen und unterbinden. Diese Aufgaben waren aus großer Nähe und mit möglichst hohen Gewichten zu erfüllen. (…) Der Fernwurf, der nur mit leichtesten Geschossen möglich war, kommt für eine Verwendung der Blide bei Angriffen weniger in Betracht, wohl aber bei der Verteidigung.“7 Rathgen hält trotz Einschränkungen also sowohl einen Einsatz für das direkte als auch das indirekte Schießen/Werfen für möglich. Das direkte Schießen oder besser Werfen wird im Folgenden noch von entscheidender Bedeutung sein. Dennoch spricht Rathgen ihr die eigentliche Effektivität ab, wenn er schreibt, daß sie keine „Breschewirkung“ vermochte auszuüben.8

Volker Schmidtchen folgt 1990 im weiteren Sinne Rathgen: „Als Geschosse für die Bliden dienten große, grob behauene Felsbrocken und Brandsätze, die ins Innere einer belagerten Burg oder Stadt geworfen wurden. Die schweren Steine durchschlugen Dächer und hölzerne Deckungen, beschädigten die Umwallung von oben und vermochten auch hinter den Mauern aufgestellte Fernwaffen der Verteidiger zu treffen.“9

Diese Sichtweise auf die Verwendung der Gegengewichtswurfmaschinen als relativ unkontrollierbare „Wurfmonster“, die mal hier mal dort „Felsbrocken“ hinschleudern, Kotfässer vom Himmel fallen lassen und Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung verbreiten – um es einmal überspitzt zu formulieren – scheint noch heute in den Köpfen der meisten Historiker und „reenactor“ herumzuspuken.

Welchen „Raubritter“ stören denn durchschlagene Dächer? Und welcher Raubritter verfügte über Fernwaffen und was sollten die hinter der Mauer denn bewerfen, ohne Einsicht ins Gelände? Oder gab es schon „Feuerleitstellen“? Und vor allem: wie sollten die das machen? Blideneinsätze waren enorm kostspielig, was Rechnungen belegen. Krieg war immer teuer und mußte so effektiv als möglich geführt werden. Hier zogen nicht mal ein paar Leute gegen ein Raubritternest los und schleuderten grob behauene Felsbrocken, „um die Umwallung von oben“ zu beschädigen (was übrigens nur ein Stein schafft, der vom Himmel fällt, aber kein geworfenes Geschoß mit flacher ballistischer Kurve …). Das überzeugt alles nicht.

Besser und deutlich treffender formuliert es da schon Mark Feuerle: „Die einfachste und ursprünglichste Vorgehensweise war sicher der Wurf von Steinen, deren Größe von der Kampfentfernung und der Leistungsfähigkeit des Gewerfs abhängig waren. Mit solchen Steingeschossen ließen sich unterschiedliche Ziele verfolgen: Zum einen wäre hier der direkte Beschuß der Mauern zum „Abkämmen“ der Zinnen oder gar dem Versuch der direkten Breschelegung zu nennen, zum anderen ließ sich die Mauer auch überwerfen, um Sach- und Personenschaden im Innern des festen Platzes zu verursachen. Schließlich konnte beim Überwerfen der Mauer auch noch ein weiterer Aspekt im Vordergrund stehen, nämlich die psychologische Wirkung, die sich durch das ständige schutzlose Ausgesetztsein gegenüber dem feindlichen Beschuß ergab.“10

Doch worin lag die militärische Nutzung und der Nutzen der Gegengewichtswurfmaschinen11 die wir im Folgenden der Einfachheit halber nur Bliden nennen wollen (im Unterschied zu den leichteren Zugwurfmaschinen)?

1Zeitgleich zu den praktischen Arbeiten wurde unter Leitung von Michael Kirchschlager eine Dokumentation angelegt, die u. a. eine umfangreiche Quellen- und Literatursammlung zur Thematik mittelalterlicher Wurfmaschinen enthält. Die Bliden-Dokumentation bildet heute einen Teilbestand des Vereinsbestandes des Runneburgvereins Weißensee/ Thür. e. V. im Kreisarchiv Sömmerda.

2Louis Napoleon Bonaparte u. J. Favé. Etudes sur le passé et l´avenir de l´artillerie. Paris 1846-1871; Ralph W. F. Payne-Gallwey: A Summary of the History, Construction and Effects in Warfare of the Projectile-Throwing Engines of the Ancients. Londn 1907; Donald Hill: Trebuchets. In: Viator 4 (1973), S. 99-116; Paul E. Chevedden, Les Eigenbrod, Vernard Foley u. Werner Soedel: The Trebuchet – Recent reconstructions and computer simulations reveal the operating principles oft the most powerful weapon of its time. In: SCIENTIFIC AMERICAN, July 1995, S. 58-63; Nykobin und Meißensee!!!

3Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie. Weinheim 1990, S. 162.

4Zur Terminifrage vgl. Feuerle, S. 29-41.

5Leider erhielten wir nie die Genehmigung für ein solches Experiment, da man der mittelalterlichen Technik seitens der zuständigen Behörden nicht vertraute. Zuständige Beamte meinten sogar, das Werfen mit leichteren Kugeln (nur 20-30 Kilogramm) wäre nicht so gefährlich, ein Trugschluß! Eine leichtere Kugel flog – bedingt durch den steilen Flugwinkel – in ein Dach, eine Gummikugel wurde vom Wind sogar hinter die Blide getragen und zerschlug Dachziegeln im Burgdach.

6Mark Feuerle: S. 80.

7Bernhard Rathgen: Das Geschütz im Mittelalter, Berlin 1928, S. 612.

8Rathgen, a. a. O., S. 623.

9Schmidtchen, a. a. O. S. 161.

10Mark Feuerle legte eine erste relativ umfangreiche Studie zur Innovationsgeschichte von „Blide – Mange – Trebuchet“ vor. Mark Feuerle, a. a. O., S. 141. Zur Geschichte der Runneburg-Blide erschienen in den letzten Jahren einige kleinere Beiträge vom Verfasser gemeinsam mit Thomas Stolle.

11Feuerle verweist auf die Vielzahl von Termini. Wir verwenden den Begriff Blide, da er in der Hauptverwendungszeit, dem 14. Jahrhundert üblich war und sich sprachlich durchgestezt zu haben scheint.