Leseprobe: Mord in der Distel-Bar

Helga Knoblich schaltete die Dielenlampe ein. Sie wunderte sich, daß sie plötzlich keine Müdigkeit mehr empfand. Dafür verspürte sie jetzt Hunger. Gerade wollte sie dem Kühlschrank in der Küche einen Besuch abstatten, da drang ein Geräusch an ihr Ohr. Ein leiser, schnappender Knall wie beim Entkorken einer Flasche. Sie stand wie versteinert und lauschte. Waren ihre Eltern vorzeitig zurückgekommen? Vorsichtig schlich sie auf Zehenspitzen zur Wohnzimmertür. Sie beugte sich nach vorn, aber sie kam nicht mehr dazu, einen Blick durchs Schlüsselloch zu werfen.

Die Klinke bewegte sich!

Jemand öffnete leise die Tür und spähte durch den fingerbreiten Spalt. Helga sah dicht vor sich ein helles Auge und wollte schreien, doch ehe ein Laut über ihre Lippen kam, wurde die Tür aufgerissen. Vor ihr stand ein junger Mann. Sie erkannte ihn sofort.

„Da staunst du, was?“ sagte Helmut Wedler. Das Wohnzimmer hinter ihm lag im gedämpften Licht einer Stehlampe. Die Vorhänge waren zugezogen. Er verneigte sich theatralisch mit einer einladenden Geste. „Das Fräulein wird erwartet!“ Er trat zur Seite. Der Anblick überrumpelte sie. Die Obstschale aus dem Büffet quoll über von gegrillten Hühnerschenkeln. Daneben war eine Brötchenpyramide aufgebaut. In Weingläsern perlte Sekt. An der mit Goldpapier umhüllten Flasche lehnte ein großer Pralinenkasten.

„Bist du wahnsinnig?“ In Helgas Kopf wirbelten die Gedanken wie auf einem Karussell. Willenlos ließ sie sich zum Tisch ziehen. Er drückte sie mit sanftem Zwang in den Sessel und gab ihr eines der beiden Gläser. Mit dem anderen stieß er an.

„Prost, Helga!“ Er schluckte den Sekt wie Wasser, nahm in dem zweiten Sessel Platz und füllte sein Glas erneut. „Sprachlos, was? Ich wollte dich nicht erschrecken, ehrlich! Der Zug fuhr schon eine ganze Zeit, da kam ich mir plötzlich blöd vor. Stegelow! Du kennst das Nest nicht. Dort ist nie etwas los. Kein Tanz, kein Kino, und sogar die Kneipe ist zu, weil sie keinen Wirt haben.“

„Was willst du hier?“ Helga Knoblich hielt das Glas noch so, wie er es ihr gegeben hatte. „Ins Gut lassen sie dich nicht wieder, das weißt du doch.“

Helmut Wedler lachte leise. „Die können mich gern haben! Warum trinkst du nicht? Das Teuerste, was es gab. Und die Pralinen sind auch für dich.“

„Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Helmut!“

Er sah sie an und wurde ernst. Ein Zug von Verlegenheit glitt über sein Gesicht. Er sprach leise und stockend: „Ich dachte mir … Verstehst du, Arbeit gibt es doch überall, und … Ich wollte dich fragen, ob wir nicht zusammen…“ Er verstummte und lockerte seine Krawatte, dann suchte er mit fahrigen Fingern in seinen Taschen. „Hier, für dich!“ Er streckte die flache Hand aus, auf der ein kleiner glänzender Gegenstand lag.

Es war ein goldener Ring mit einer erbsengroßen, schimmernden Perle!

Helga Knoblich sprang auf. Das Glas fiel zu Boden. Sie sah nur den Ring. In ihrem Kopf dröhnten die Fragen, die der Leutnant gestellt hatte: Haben sie den Geldschein bei sich? Sahen sie bei Helmut Wedler außer der Kleidung und dem Koffer Gegenstände, die er am Abend vorher nicht besaß? Eine Armbanduhr? Einen goldenen Ring mit einer Perle?

„Gefällt er dir nicht?“ erkundigte er sich verwundert. Er sah, wie das Mädchen erblaßte, und wurde ärgerlich. “Wenigstens ein bißchen könntest du dich freuen. Er ist eine Menge wert.“

Die unbekümmerte Art, mit der er sprach, machte Helga Knoblich erneut unsicher. „Doch, er ist schön“, murmelte sie und hob die Scherben vom Teppich auf. Kann einer so aussehen und so reden, der vor weniger als vierundzwanzig Stunden einen Mord begangen hat?