Hans Stahl als junger Fähnrich
Wegen der Sache mit den Mordbrennern (Hans Stahl hat in den vorangegangenen Kapiteln zwei Mordbrenner ins Jenseits befördert-Anmerkung d. Verf.) war ich unserem Stadtkommandanten derart ans Herze gewachsen, daß er beschloß, mich unter seine besonderen Fittiche zu nehmen, was kurzum hieß, ich mußte ihn fortan wie ein abgerichteter Hund auf allen seinen Wegen und Patrouillen begleiten. Doch ich nahm es mit großer Gelassenheit, war ich ja schließlich ein Fähnrich, und so kam es, daß ich das Handwerk des Stadtsoldaten von der Pike auf erlernte.
Die gräflich schwarzburgische Stadt- und Schloßwache war in einem zweckmäßigen großen Haus vor dem Schloß untergebracht. Die Kompanie bestand aus etwa fünfzig Mann und unterstand dem Befehl des Stadtkommandanten, der im gräflichen schwarzburgischen Arnstadt Stadtleutnant hieß. Sie wurde kommandiert vom gestrengen Herrn Michael Harnisch, seines Rangs Hauptmann, zwei Leutnants, zwei Feldwebeln, davon einer als Profoß, einem Fähnrich, zwei Korporalen, einem Tambour, einem Feldscher, einem Musterschreiber und etlichen Sergeanten. Der Rest bestand aus Gemeinen.
Ich wurde anfänglich den Männern der gräflichen Schloßwache zugeteilt, als frühere Soldaten alles rauhe Burschen, die schon etliches auf dem Kerbholz hatten. Einige ausgewählte Männer dienten Ihrer Gnaden dem Grafen und der gräflichen Familie als Leibtrabanten. Die anderen schützten gemeinsam mit Bauern der Umgebung, die eigens dafür rekrutiert wurden, das Schloß, den Schloßgarten und die umliegenden Bereiche, wie Vorwerk, Frohnfeste, Amtsgericht.
Selbst ihre manchmal zweideutigen Namen verrieten so einiges über ihren Lebenswandel. Da war der lange Frienstedt, ein Sergeant von übergroßer Körperlänge, weshalb ihn alle nur den „Langen“ nannten, ein kräftiger Mann, den man gern im Getümmel neben sich wußte. Unser Korporal war ein alter Soldat, seinem Namen nach ein Franzose, denn er hieß Jean Pierre Louviers, was aber keiner von uns aussprechen konnte, weshalb wir ihn nur kurz Franz, von Franzmann, nannten. Er war ein vortrefflicher Fechter und Mitglied der angesehenen burgundischen Fechtbruderschaft „Le jeu de la hache“, was soviel heißt wie „Das Spiel der Axt“. Franz unterwies uns alle und mich als Liebling des Stadtleutnants im besonderen in der Kunst des Fechtens und anderen Kampfkünsten, sowohl mit dem Rapier, der Hellebarde als auch das Ringen zu Pferde.
„In der Schlacht, also wenn es ans hirnlose Hauen und Stechen geht, dann nützt euch die Fechtkunst sowieso nichts, dann heißt es nur: Kopp einziehen, draufhauen, wieder Kopp einziehen! Aber wenn es darum geht, einen Bürgerssohn oder einen anderen Klopffechter, der sich auf dem Tanzboden vollgesoffen hat und mit seinem Rapier wild um sich haut, zu entwaffnen, dann sind das richtige Paradieren und einige wohlgeführte Stiche von Vorteil.“
Seine Lieblingstechnik in solchen Fällen war der gezielte Stich in den Fuß, was zwangsläufig immer ein Bücken des Getroffenen in Richtung Stichstelle zur Folge hat.
„Und dann haut ihr einfach das Rapier zur Seite, greift den Kerl an den Armen und zieht das Knie in Richtung Gesicht. Vom Schmerze kann er sich im Stock erholen.“
Unser Profoß war ein alter gedienter Feldwebel, ein wahrer Wamsklopfer, weshalb wir ihn nur den „Steckenbrecher“ nannten.
Ein anderer Feldwebel, der für die Garküche der Kompanie zuständig war, aber mit allen in der Küche, angefangen vom Küchenmeister, den Köchen über den Küchenschreiber bis zu den Geschirrwäscherinnen, stets in Unfrieden lebte, war ein glatter Aal und Nichtskönner. Stimmten die Portionen nicht, waren die Mehlwürmer schuld, war der Wein sauer, schob er es auf irgendwelche Schimmel. Ging es aber darum, beim Hauptmann Lob einzuheimsen, rückte er immer in die vorderste Reihe. Summa summarum: er war ein kleiner Wicht, den wir ob seiner blassen Gesichtszüge nur den „weißen Aal“ nannten.
Schließlich will ich noch unseren Waffenmeister erwähnen, einen kleinen, blondschopfigen Altmärker, der von so enormer Körperkräft war, daß es uns alle immer wieder nur erstaunte, wenn er ohne große Mühe ein zentnerschweres Pulverfaß in die Höhe hob. Er hieß Hans Müller und war ein gebürtiger Tangermünder, und da er sich wie kein zweiter in der gräflichen Rüstkammer und im Pulvermagazin auskannte, gab man ihm den Beinamen „Pulvermüller“.
Was mir anfänglich zusetzte, waren nicht die Wachen, die rund um die Uhr gestanden werden mußten, das stundenlange Exerzieren oder die sonstigen Übungen, die ein Soldat im Laufe seiner Soldatenzeit absolvieren muß, nein, was mir zusetzte, waren die Toten, zu denen wir gerufen wurden und bei denen es sich meistens um Verunfallte oder Selbstentleibte handelte.
Meine erste Leiche sah ich Anfang Mai Anno 1605, also wenige Wochen nach meiner Bestallung als Fähnrich. Es war ein Bierbraugeselle, der in einem Bierkeller am Bierdampf erstickt war.
Als die Totengräber den Mann holten und auf einer Bahre an uns vorbeitrugen, bemerkte Hauptmann Harnisch mit dem ihm eigenen schelmischen Grinsen im Gesicht: „Seht ihr Männer, wie gefährlich das Bier sein kann?“
Hauptmann Harnisch wollte sich dabei nicht lustig über die ganze Sache machen, aber später gab er mir zu verstehen, daß man beim Anblick einer Leiche nicht in Gefühlsduselei verfallen dürfe, sonst würde man unnütze Fehler machen und die wären gar nicht gut.
Anno Christi 1607 wurde ein Maidlein gefunden. Am Narrentag, einem Mittwoch nach Palmarum, las das Töchterlein von Peter Roder, die kleine zehnjährige Christina im Walperberg Holzspäne in ein Körblein, und wie es zur Mittagszeit bei der Ölmühe vor dem Riedtor über den Steg gehen wollte, kam unverhofft ein kräftiger Wind auf und warf das Maidlein mit dem Korb in die Fluten, so daß es ertrank. Die armen Eltern heulten Rotz und Wasser und auch uns standen die Tränen ob der kleinen Leiche in den Augen. Da half auch das Faß Bier nicht, welches uns des Abends seine Gnaden der Graf Günter anläßlich seines Geburtstagsfestes in die Garnison rollen ließ.
Der Tod des Schreibers Friedel Müller, Anno 1609, dessen Leichnam man hinter dem Neutor im Graben unter des Bäckers Jacob Rörer Weinberg fand, konnte nicht geklärt werden. Da dieser ledige Gesell ein Verächter des Heiligen Abendmahls war, wurde er ohne Schüler, Gesang und Geläut begraben.
Im selben Jahr, am 20. April, wurde Jacob Hahn, der Richter von Hof, Mittags zwei Uhr vor Jacob Trisels Bierhaus von einem Zimmermann aus Gehren über dem Knie mit einem Rapier gestochen. An dieser geringen Wunde starb er um vier Uhr.
Eine weitere Leiche gab es Ende Juni Anno Christi 1611. Thomas Bote erstach um sechs Uhr gegen Abend mit einem Brotmesser sein Weib Wendelin in Meister Jacob Rörers Haustür in der kleinen Johannisgasse unter dem Markte. Der Mörder flüchtete nach Holzhausen, wo man ihn aber schnell einfing. Dort saß er zehn Tage im Turm, dann holten wir ihn nach Arnstadt ab.
Am Freitag nach Mariae Heimsuchung, dem 5. Juli Anno 1611, wurde er vor dem Siechenhof mit dem Schwert gerichtet und auf dem Gottesacker begraben. Zwar hatte man ihm als seines Eheweibes eigener Mörder die Strafe des Sackes zugedacht, ihn aber dennoch zum Schwerte begnadet. Seine Frau wurde, weil sie oft sehr trunken war und auch sonst kein gutes Zeugnis besaß, ohne Zeremonien begraben.
Die Enthauptung des Thomas Bote war meine erste Hinrichtung, an der ich als Stadtfähnrich teilnahm. Ich kann mich noch gut erinnern, wie die Menschen in Scharen nach Arnstadt strömten, um diesem unschönen Schauspiel beizuwohnen. Der Delinquent verlangte kurz vor seiner Abholung aus dem Längwitzer Torturm, wo die schweren Verbrecher einsaßen, eine ganze Maß starken Weins. Diese soff er in großen Zügen aus und kam voll und toll wie ein Vieh auf dem Richtplatz an. So wie er gelebt hatte, starb er.
Anno 1613 ertrank ein Schuhknecht in der Gera. Man fand seinen Leichnam nicht weit von der Steinbrücke vor dem Riedtor in der Nähe eines Hopfenberges. In diesem Jahr hörte man gegen sechs Uhr in der Frühe auch das große Geprassel und Fallen eines Gespenstes in der Liebfrauenkirche. Wir rückten sofort aus, konnten aber nichts entdecken. Am 16. September Anno 1614 wurde Margaretha Schmid, eine ledige Dirne aus Riechheim, vor dem Siechhof enthauptet. Sie hatte ihr uneheliches Kind zu Rockhausen heimlich ermordet.
Besonders traurig waren wir über den plötzlichen Tod des zehnjährigen Ignatius Heßling, des Stadtschreibers Quirinus Heßling Sohn. Der Kleine hatte sich am 11. Oktober Anno 1616 aus Strohseilen eine Schauckel gebastelt und sich jämmerlich zu Tode gestürzt.