Hans Stahl – Die Sezierung
Der Gestank, der von der Leiche ausging, war entsetzlich. Pfaffe schleppte sein tropfendes Leichenbündel in eine Ecke des großen Hofes des Hurenhauses, wo keine Sonne hinschien, und ließ es fallen. Dann rollte er die Rebecca aus, übergoß sie mit Brunnenwasser und trocknete sie mit groben Tüchern ab. Während der Leichenreinigung erschienen erneut die Herren des Gerichts, Herr Bürgermeister Fischer, der Herr Amtsrichter und der Herr Gerichtsschreiber Kropf. Sie unterhielten sich leise und mit abgewandtem Rücken. Offensichtlich teilte der Herr Amtsrichter den Inhalt des ersten Verhörs des Herrn von Ingersleben mit.
Inzwischen traf Herr Doktor Breithaupt ein, der einen Kollegen und einen Studenten der Medizin mitbrachte. Der Mediziner verkündete, die Sezierung gleich im Hof des Bordells vornehmen zu wollen, wofür er eigens einen Tisch benötigte, der darauf von den Schönfrauen herbeigeschafft wurde.
Bei den Herren Medici handelte es sich um den Physikus Doktor Tobias Breithaupt, der die Ursula, eine Salzaer Bürgermeisterstochter, zur Frau hatte, den jungen Stadtphysikus Magister Hieronymus Frobenius, der später Bürgermeister werden sollte, sowie den Medicinae Studiosus Fridericus Friderich, des Ratskämmerers Sohn.
(NB. Letzterer war damals ein lediger Geselle. Als junger Bräutigam von 24 Jahren heiratete er im Juni Anno 1618 Anna Elisabetha, des Bürgermeisters Breithaupt Tochter. Doch der hoffnungsvolle junge Mediziner starb aus unerklärlichen Gründen bereits ein halbes Jahr später.)
Doktor Breithaupt trug einen schwarzen breitkrämpigen Hut und einen schwarzen Umhang. Seinen Hals zierte der schon lange in Mode gekommene weiße Kragen aus Spitze. In der rechten Hand trug er eine längliche, lederne Tasche, in der er seine Instrumente wie Messer, Skalpelle, Sägen, Nadeln und dergleichen mit sich führte.
Er war ein Mann im besten Alter, grauhaarig zwar, aber von schönen, klugen Gesichtszügen. Schon so manchem armen Schlucker hatte er geholfen, die eine oder andere Unpäßlichkeit oder die Leiden des Alters schmerzfrei zu überstehen. Als er in den Hof des Hurenhauses trat und den leblosen Körper der schönen Rebecca aufgebahrt und gereinigt sah, entfuhr ihm ein kurzes „Hach!“
Doktor Breithaupt reichte dem Studiosus Friderich Umhang und Hut und krempelte sich die Ärmel seines weißen Leinenhemdes hoch. Dann entnahm er seiner Tasche eine Schere, erprobte deren Schärfe und zerschnitt wohlgeübt das Nachthemd der Rebecca.
„Ich bin gespannt, wie Ihr sie sezieren werdet.“ sagte Magister Frobenius und beugte sich interessiert über die Leiche.
„Zuerst sehe ich mir den Körper genau an und wie die Herren leicht erkennen können, handelt es sich hierbei um den einen jungen schönen Frau, makellos und rein. Nein, nicht ganz rein, aber makellos. Keine Narben, keine Wunden, keine Furunkel, nur ein paar Hautabschürfungen an der Hüfte, die wohl durch das Fallen in die Abortgrube entstanden sowie die typischen Totenflecken. Die Leiche ist schon starr, lag also schon geraume Zeit in der Kloake.“
Nun besah er sich eingehend den Hals. Hier waren dunkelblaue bis braunschwarze Striemen zu sehen.
„Ha! Sehen Sie? Das Ende erhielt die leichte Schöne durch eine Strangulation.“
„Und geschätzter Herr Kollege, mich würde auch nicht wundern, wenn die Strangulation mittels ihrer eigenen Haare erfolgte!“ warf Herr Magister Frobenius ein.
Doktor Breithaupt besah sich die Haare genauer und beugte sich tief zum Hals der Leiche.
„Unverkennbar. Die Striemen stammen von den Haaren. Welch Fatalität! Ich teile Ihre These, Herr Magister, sehr gut erkannt. Damit hätten wir die Todesursache und wahrscheinlich die Ausführung der schrecklichen Tat geklärt. Anatomia Clavis et Clavus Medicinae.*“
Der Student der Medizin bestätigte das Gesagte.
Doktor Breithaupt, die Haare zwischen den Fingern hochhaltend, fuhr fort.
„Aber“, meine Herren, „selbst wenn eine Strangulation vorliegt, wollen wir uns doch nicht um das Vergnügen einer vollständigen anatomischen Sezierung bringen, denn wie mir scheint, war die Rebecca schwanger!“
Der Medici betastete daraufhin den Bauch der Hure und schaute erstaunt zu seinem Lehrmeister auf.
„Wie habt Ihr das erkennen können, Doktor Breithaupt?“ fragte er ungläubig.
* Anatomie – Schlüssel und Steuerruder der Medizin.
„Bitte nicht die Leiche berühren, Herr Studiosus Friderich!“ ermahnte der Doktor den Studenten. „Hier, meine Herren, dieser leichte Wulst, diese kleine Anhöhe ist etwas zu fest für einen Fleischkloß.“
Und kaum hatte er den Vergleich mit dem Fleischkloß gezogen, griff er auch schon nach dem Skalpell in der Tasche und begann, die schöne Rebecca vom Brustkorb bis zur Scham aufzuschneiden.
„Mit diesem großzügigen Schnitt gelingt es relativ leicht, Brust- und Bauchhöhle zu öffnen.“
Das Blut floß nicht mehr, wohl aber trat aus ihrem Bauch eine übelriechende Flüssigkeit heraus, in der sich Würmer krümmten. Und dann bestätigte sich des Doktors Vermutung.
Rebecca war schwanger! Ein kleines Mädchen, knapp so groß wie eine Männerfaust.
Die drei Herren disputierten nun über den Tod der schönen Rebecca Langhaar, die unzweifelhaft mit ihren eigenen Haaren erdrosselt worden war. Und unzweifelhaft handelte es sich um einen Doppelmord, denn Rebecca ging auf schwerem Fuß.
Die Aufschneidung der Leiche dauerte fast zwei Stunden, wobei sich die Herren Medici oftmals auf lateinisch unterhielten, was ein gemeiner Soldat natürlich nicht verstand und fast schien es, als käme ihnen dieser junge Körper gerade gelegen, ihre neuesten pathologischen Untersuchungen zu bestätigen und ihre chirurgischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nein, solch einen Tod und auch so ein Geschnippel hatte die arme Rebecca nicht verdient!
Es war eine unschöne Sache, und mehr als einmal würgte ich, wenn der Herr Doktor Breithaupt einmal wieder eine Niere oder die weiblichen Hoden aus dem Bauch der Leiche schnitt und sie dem Magister Frobenius und dem Studiosus Friderich zur anatomischen Beschau herumreichte. Die Innereien mit dem ganzen Geschlungs legte der Herr Doktor dann stets neben den aufgeschnittenen Körper, um sie dann am Schluß der Sezierung in die Leiche zurückzustopfen und dann wieder gehörig zu vernähen.
Auf Vorschlag des Magisters Frobenius öffnete der Herr Doktor Breithaupt zum Schluß der Leichenöffnung noch den Schädel der Rebecca Langhaar mittels einer merkwürdigen Säge und entnahm das Gehirn. Einem Professor der Anatomie gleich, begann er zu referieren.
„Wie die Herren sehen, ist das Cerebrum oder Großhirn in der Mitte durch einen Einschnitt in zwei Halbkugeln geteilt. Diese Halbkugeln oder Hemispheren zeichnen sich durch eine starke Faltung oder Furchung aus. Zwischen den Hemisphären existiert eine breite Verbindung aus einem dicken Strang, den wir Balken nennen.“
Doktor Breithaupt schnitt das Gehirn in unzählige kleine Stücke. Die Medici beugten sich von Zeit zu Zeit über das Gehäcksel und gaben Kommentare ab.
„Ich kann beim besten Willen keine Anomalie erkennen.“ erklärte Magister Frobenius, fast schon etwas verzweifelt.
„Und dennoch muß es einen Unterschied, nun sagen wir einmal, zu dem Gehirn der Frau des Herrn Bürgermeisters geben.“ stellte Doktor Breithaupt mit einem Augenzwinkern fest.
„Doch dieses Problem lösen wir heute nicht mehr. Mein lieber Kollege Frobenius, lieber Friderich, ich danke Ihnen. Lassen Sie uns die Leichenbeschau beenden.“
Doktor Breithaupt nähte die Leiche zu und stopfte das Gehirn in die Schädelhöhle zurück. Die langen Haare der Rebecca verdeckten gekonnt die häßlichen Schnitt- und Sägewunden am Kopf.
Das kleine Knäuel, das ungeborene Kindlein, wickelte er in ein Stückchen Leichentuch und übergab es dem Totengräber Wendel Pfaffe, der es wiederum zu Herrn Superintendenten Schuccelius schaffte, damit es neben der Leiche seiner Mutter aufgebahrt werden könne.
Nach dem Ende der Sezierung informierte Herr Doktor Breithaupt die anwesenden Gerichtsherren von seinen Ergebnissen. Er versprach, den Bericht der Leichenschau umgehend an das Amtsgericht zu senden. Dann verließen alle Anwesenden den Hof. Rebecca Langhaar wurde am darauffolgenden Tag samt ihrem Kindlein ohne Geläut, aber mit Gebet begraben.