Hans Stahl – Die tote Schönfrau
Am nächsten Morgen, das erste Läuten der Glocken Unser Lieben Frauen war schon eine Weile her, klopfte es wie wild an unsere Haustür. Ich wohnte im zweiten Geschoß und hatte meine Schlafstube direkt über der Pforte, gerade um schnell geweckt werden zu können. Mein Kopf war noch ordentlich schwer vom vorabendlichen Gelage, und wie ich zum Fenster stolperte, fühlte ich einen leichten Schwindel. Ich sah aus dem Fenster und schaute in das blutleere Gesicht meines Fähnrichs, des langen Frienstedt.
„Herr Leutnant, Ihr müßt kommen. Im Bordell wurde eine der Schönfrauen gefunden.“ Und er fügte noch hinzu: „In der Heimlichkeit.“
„Warte, Langer“, rief ich und zog mich in Windeseile an.
Der Lange und ich liefen schnurstracks in die Große Rosengasse, wo das städtische Bordell zum Gefallen zahlreicher Männer von nah und fern stand. Alle Fenster waren hell erleuchtet, und wenn ich nicht wegen einer Leiche gerufen worden wäre, hätte man meinen können, meine Leute hätten beschlossen, hier weiterzufeiern.
Unten neben dem Eingang stand bereits mein Korporal, umringt von halbnackten Schönheiten, deren Sinn allerdings am wenigsten nach einem schnellen Gulden stand, wie ihre ansonsten hübschen, mit allerlei Farbe bemalten, nun aber kalkfahl gewordenen Gesichter zeigten. Ein paar Gesellen der benachbarten Gewerke und Fuhrleute standen fast vertraut neben den Schönfrauen und raunten ihnen von Zeit zu Zeit etwas Vertrauliches ins Ohr.
Es würde wohl kaum eine halbe Stunde dauern, bis die Nachricht vom Tod der Schönfrau in Arnstadt herum war. Die „Mutter Oberin“, wie Madame Ampolonia auch genannt wurde, und die den Schönfrauen vorstand, winkte mir vielsagend zu, als sie mich erblickte. Sie war mit einem Schlafpelz bekleidet und hielt einen Kerzenleuchter in der Hand.
„Ach, Herr Stahl, es ist furchtbar!“
„Stadtleutnant Stahl, Weib, seit gestern Stadtleutnant!“ raunzte sie der Korporal an.
„O, entschuldigt, Herr Stadtleutnant, ich vergaß, ich wußte nicht, daß …“
„Nichts für ungut. Was ist geschehen?“ fragte ich und sah der schönen Frau scharf in die Augen.
„Die Rebecca liegt leblos und seellos in der Heimlichkeit“ antwortete sie und wich meinem Blick aus. „Kommt bitte, Herr Stadtleutnant, ich möchte euch die Ärmste zeigen.“
Ich folgte Madame Ampolonia und versuchte einen klaren Kopf zu gewinnen, was nicht so einfach war nach dem Genuß von drei oder vier Kannen Einbecker. Madame Ampolonia blieb auf der Türschwelle zur Heimlichkeit stehen.
„Ich möchte keinen Schritt weitergehen, Herr Stahl, es ist so schrecklich, aber seht bitte selbst!“ Und sie zeigte in Richtung Sch…loch, dessen Deckel offen stand.
Als sie mein erschrockenes Gesicht wahrnahm, fragte sie mich, fast bestätigend: „Ist das nicht furchtbar?“
Ich betrat den Abort. Glücklicherweise wurde es langsam hell und man konnte schon recht gut das Innere erkennen. Ich gab der „Mutter Oberin“ ein Zeichen, mir den Leuchter zu reichen. Nun konnte ich das Sekret nach allen Richtungen hin ausleuchten.
Hier waren Ritzungen mit Rauten und Ficas verschiedenster Größe angebracht, hatten Freier sich mit Initialen und Herzchen verewigt, zweideutige Sprüche hineingeritzt, die hundert Fuß weiter (in der Liebfrauenkirche) wohl so manchem Frommen das Abendmahl versauert hätten. Einer lautete: „Die Fica und das Tintenfaß, die sind von innen beide naß, das kommt vom vielen Tunken, ihr Halunken!“ Ein anderer beschäftigte sich mit der Virila des Mannes …
Der hölzerne Deckel der Latrine war hochgeklappt und ließ unschönen Gerüchen freien Lauf. Ich leuchtete hinein und fuhr Potz Donner und Blitz erschrocken zurück. In Gottes Namen! dachte ich, das arme Mädchen! Mitten in der Kloake schwamm die Leiche der in ganz Arnstadt bekannten Rebecca Langhaar. Ihre offenen Augen starrten mich aufs schrecklichste an.
Sie war die stadtbekannteste Schönfrau und zählte etliche und überaus vermögende Liebhaber und Verehrer zu ihren Freiern.
Das nicht einmal zwanzigjährige Mädchen verdingte sich erst seit einem halben oder dreiviertel Jahr bei den Schönfrauen, nachdem sie es zu Hause bei ihren versoffenen Eltern, einem Tagelöhnerpaar vor dem Riedtor, nicht mehr ausgehalten hatte. Sie machte dann mit der Hure Sybilla Silbereugel Bekanntschaft, die ihr empfahl, sich bei Madame Ampolonia vorzustellen. Dann kam das eine zum andern, und Rebecca Langhaar trat in den „Dienst“ der Stadt.
Die schöne Rebecca, die den Beinamen Langhaar nicht von ungefähr trug, denn sie trug ihr strohgelbes Haar bis zu den Hüften, war darüber hinaus ein sehr geschäftstüchtiges Mädchen und verstand es, die Männer auszunehmen wie Weihnachtsgänse.
Mir schossen mehrere Fragen durch den Kopf: Sollte hier ein Freier am Werk gewesen sein? Hatte er das arme Ding nach dem Liebesspiel umgebracht? Hatte sie sich ihm verweigert und er war grob geworden? Es kam zuweilen vor, daß sich die Betrunkenen aus dem „Roten Hirsch“, der ganz in der Nähe lag, an den Mädchen vergingen. Selbst angesehene Bürger turnierten hier herum oder stürmten in ganzen Banden vollgesoffen wie die Tiere nach Gelagen im Ratskeller das Bordell. Die Stadtgerichtsakten müßten voll sein mit solchen Fällen, und die Einnahmen aus den Steinbußen beträchtlich.
Ich trat einen Schritt zurück und versuchte nachzudenken. Hier galt, was mir Hauptmann Harnisch immer eingebläut hatte: einen kühlen zu Kopf bewahren. Ich ging nach unten. Madame Ampolonia folgte mir.
Auf der Treppe fragte ich sie fast nebenbei, ob sie diese oder die davorliegenden Nächte etwas Ungewöhnliches beobachtet habe, und sie stutzte. Das kam mir sofort merkwürdig vor. Ich blieb stehen und sah sie an.
„Also habt Ihr etwas gesehen?“
„Nein, Herr Stahl, ich habe nichts und niemanden gesehen.“
Das schien eine glatte Lüge zu sein!
„Ihr werdet vor Gericht unter Eid und auf die Heilige Schrift aussagen müssen, Madame Ampolonia! Mir müßt ihr keine Rede und Antwort stehen, wohl aber dem Herrn Amtsrichter.“
Die Frau schwieg und sah zu Boden. Ich wollte sie nicht weiter in Bedrängnis bringen und setzte meinen Weg nach unten fort. Vor der Tür warteten meine Leute, und wie ich es bereits vermutet hatte, war so etwas wie ein kleiner Auflauf entstanden.
„Korporal, setzt Euch sofort in Richtung Amtsrichterhaus in Bewegung und weckt den Herrn Amtsrichter! Schickt auch sofort zwei Mann los, den Herrn Bürgermeister und den Gerichtsschreiber von dem Mord in Kenntnis zu setzen. Sie als Gerichtspersonen müssen sich hier unverzüglich einfinden.“
Der Korporal nickte und marschierte ab.
II
Der Seiger auf dem Rathaus schlug sieben, als die drei Gerichtsherren fast gleichzeitig eintrafen. Nachdem sie sich die Leiche angesehen hatten, ließen sie die Schönfrauen im Hof in einer Reihe antreten. Rechts neben den Mädchen stellte sich Madame Ampolonia auf.
„Madame, Ihr kennt euch doch bestens in den, nun sagen wir einmal, Gepflogenheiten Eures Hauses aus. Wer war denn der letzte Gast bei der Rebecca?“ fragte Bürgermeister Niclas Fischer, dessen Amtszeit zu Michaelis endete.
„Das weiß ich leider nicht. Ich sehe nicht immer die Gäste, noch weiß ich immer, wer sie sind. Ich muß doch verschwiegen sein, Herr Bürgermeister. Das versteht Ihr doch?“ antwortete die Gefragte.
„Madame Ampolonia“, fragte der Herr Bürgermeister nochmals, „wann habt Ihr sie das letzte Mal gesehen?“
„Gesehen? Vor einigen Tagen, ich habe mich schon gewundert …“ Madame Ampolonia wurde aschfahl.
„Gut. Und wer war ihre Freundin?“
„Die Sibylla Silbereugel und die Rebecca waren beide unzertrennlich.“
Madame Ampolonia zeigte auf das betreffende Mädchen, die wie ein Soldat gehorsam vortrat. Sibylla war noch von der Nacht gezeichnet. Sie war ein blasses Wesen mit langen roten Haaren und vielen Sommersprossen. Als sie die Herren des Gerichts bemerkte, befiel sie ein auffälliges Zittern. Die weiß etwas, sagte mir mein Instinkt.
„Wer war denn immer so bei der Rebecca?“ fragte unumwunden der Herr Bürgermeister.
Das Mädchen begann zu heulen und zu schluchzen.
„Ich weiß es nicht.“
„Wem stand sie zu Diensten?“
„Wenn ich das sage, wird es mir übel ergehen.“
„Wenn du es nicht sagst, wird es dir noch übler ergehen!“
Madame Ampolonia griff das arme Ding hart am linken Unterarm.
„Nun rede schon!“ zischte die „Mutter Oberin“.
„Es war der Herr von Ingersleben.“
„Ganz sicher?“ bohrte Bürgermeister Fischer nach.
„Ja, von dem hat sie jedenfalls erzählt.“
„Was hat sie erzählt?“
„Daß er ihr immer Geschenke macht.“
„Und einen anderen Freier gab es nicht?“
Das Mädchen zuckte unschlüssig mit den Schultern. Dabei sah sie dem Herrn Amtsrichter ins Gesicht.
„Die meisten Herren kommen des Nachts, einige vermummen sich.“
„Also haben wir doch immerhin einen Verdächtigen“, resümierte der Herr Bürgermeister, „der die schöne Rebecca umgebracht haben könnte.“
„Madame Ampolonia“, mischte sich nun der Herr Amtsrichter ein und sah die „Mutter Oberin“ streng an. „Könntet Ihr nachforschen, ob man sie bestohlen hat?“
Madame Ampolonia nickte und ging in das Zimmer der Rebecca. Die Mädchen behielten die Einnahmen stets in ihren Zimmern und gaben den vereinbarten Anteil wöchentlich an Madame ab. Diese wiederum verwahrte dann die mitunter ansehnliche Summe und zahlte sie als Steuer an den Herrn Stadtkämmerer. Nach einem kurzen Augenblick kam sie zurück und hielt eine kleine hölzerne Lade in den Händen.
„Herr Amtsrichter, ihre gesamte Barschaft ist noch darin, zwölf Rheinische Goldgulden, drei Annaberger Taler, zwei alte Taler, ein Doppeltaler sowie ihre drei goldenen Ringlein und die Silberbrosche, die ihr ein feiner Herr erst kürzlich verehrt hat. Sie bewahrte die Sachen immer in dieser hölzernen Lade auf. Seht selbst!“ Und Madame zeigte den umstehenden Herren das Kästlein.
Zwölf Rheinische Goldgulden, drei Annaberger Taler, zwei alte Taler, ein Doppeltaler, drei goldene Ringlein und eine Silberbrosche! Das war viel Gold und Silber.
„Offensichtlich wurde sie nicht beraubt!“ stellte der Herr Bürgermeister trefflich fest.
Amtsrichter Paulus Ernestus Herodes sah mit einem durchdringenden Blick zu Madame Ampolonia. Dann sagte er, einen der Ringe prüfend und ihn zum Herrn Bürgermeister Fischer reichend:
„Meine Herren, ich würde mich nicht wundern, wenn es sich bei dem gesuchten Bösewicht um den jungen Herrn Albrecht von Ingersleben handelt. Er hatte sich schon ein paar Mal bei mir beschwert, daß sich die Weiber aus dem Hurenhaus über seinen ‚Kleinen‛ lustig machten und davon in der ganzen Stadt herumerzählten.“
Amtsrichter Herodes sah nun zu den beiden anderen Gerichtsherren.
„Es war auch in der ganzen Stadt bekannt, daß er im Hurenhaus ein- und ausging und den Schönfrauen Geschmeide und kostbare Kleinodien schenkte.“
Der Herr Bürgermeister nickte zustimmend. „Das wäre denkbar, soviel ich weiß, drohte er gar damit die ‚Metze‛, wie er sagte, mal ordentlich durchzuwammsen. Vielleicht hat er es diesesmal wahr gemacht?“
„Und über gewisse abartige Neigungen, für die ihm die Schönfrauen zur Verfügung stehen mußten, möchte ich gar nicht sprechen.“
Der Herr Gerichtsschreiber Kropf stimmte mit einem Kopfnicken den Aussagen zu.
„Herr Bürgermeister“, sagte er, „dem pflichte ich bei.“
„Ich glaube auch, wenn ich mir diesen Ring so betrachte, daß der Herr von Ingersleben unser gesuchter Mörder ist. Seht selbst! Der Ring trägt die Initialen A. v. I.“
Und mit diesen Worten zeigte der Herr Bürgermeister den Ring. Wie zur Bestätigung überreichte mir der Herr Amtsrichter den Ring ebenfalls.
„Wir sollten den jungen Herrn von Ingersleben gefänglich einziehen lassen, selbst wenn das großen Verdruß für uns und die ganze Gemeinde nach sich ziehen sollte“, sagte Bürgermeister Breithaupt nachdenklich, aber mit Bestimmtheit.
„Das sollten wir“, pflichtete der Herr Gerichtsschreiber bei.
Amtsrichter Paulus Herodes verzog das Gesicht wie ein Krämer, dem man einen schlechten Handel vorschlug.
„Mir tut die ganze Sache ja leid, auch kenne ich die Familie von Ingersleben sehr gut und schätze ihre Zuwendungen an die Stadt, aber, bei Gott dem Allmächtigen, es muß sein. Der Ring ist zwar kein eindeutiger Beweis für seine Schuld, aber ein anderer kommt zu dieser Stunde nicht in Betracht. Herr Stadtleutnant, begebt Euch umgehend zum Haus des Herrn von Ingersleben und nehmt ihn gefangen. Schafft ihn in Ketten zum Längwitzer Torturm. Sobald ihr den Arrestanten in Eisen gelegt habt, erstattet Ihr mir Bericht. Aber hütet Euch, der von Ingersleben ist aufgrund seines cholerischen Gemüts zu allem fähig, und wie ich vermute, wird er sich nicht so einfach von Euch festnehmen lassen. Zur Not müßt ihr ihn sogar arkebusieren, was Gott verhindern möge.“
„Jawohl, wie der Herr Amtsrichter wünscht!“ antwortete ich und verneigte mich vor den Herren der Obrigkeit.
„Und noch etwas, laßt nach dem Totengräber rufen. Er soll die Hure hier herausbringen, abwaschen und im Hof aufbahren. Ich selbst verständige den Herrn Physikus Doktor Breithaupt, die gerichtliche Sezierung vorzunehmen, an der wir dann ebenso teilnehmen werden. Vielleicht findet sich ja noch irgendein Hinweis.“
„Sehr wohl, Herr Amtsrichter!“ nickte ich, gab meinem Fähnrich mit einer eindeutigen Kopfbewegung zu verstehen, daß er mir folgen solle, und marschierte ab. Und auch die Herren des Gerichts verließen diesen furchtbaren Ort und gingen ihrer Wege.
Die furchtbare Sache ergab für mich keinen Sinn. Zwar war der von Ingersleben als böser Schläger bekannt, und natürlich hatte er mehr als einmal gedroht, die eine oder andere der Schönfrauen zu verprügeln, aber daß er sie auf so grausame Art umbrachte und dann auch noch unter größten Anstrengungen im Abort versenkte? Und warum ließ er seinen Ring zurück, der ihn verraten konnte? Ich hätte ihm zugetraut, daß er sie blitzeblau haut, aber umbringen? Vielleicht im Grimm, aber nicht von Vorsatz getrieben. Hier war Haß im Spiel.
Aber das war alles nicht meine Angelegenheit. Zu dieser Zeit glaubte ich noch an die Rechtschaffenheit des Gerichts und schickte einen meiner Leute umgehend zum Totengräberhaus.
Darüber hinaus hatte ich einen Befehl auszuführen und der hieß: Gefangensetzung des Herrn Albrecht von Ingersleben.