Michael Kirchschlager im Gespräch mit Kirsten Freienstein und Jens Nielsen, den beiden Autoren des Buches „Schweigepflicht“

  1. Ein alter Spruch besagt: Frage niemals einen guten Mann, woher er kommt. Würden Sie dem beipflichten?

Nein, nicht mehr. Wir haben durch unsere Forschung ein weiteres Mal gezeigt bekommen, daß „gut sein“ kein statischer Zustand ist. In unserem Fall hat sich herausgestellt, daß der gute Arzt Dr. Waldemar Freienstein, der sich im Nachkriegsdeutschland als Hausarzt, Lebensberater und Chirurg einen sehr guten Ruf erarbeitet hatte, in seiner Vergangenheit in der NS-Zeit überhaupt nicht das gewesen war, was wir heute als einen „guten Menschen“ empfinden würden. Obwohl er selbst von sich sagte, daß er immer nur ein guter Arzt sein wollte, sind sehr viele Verbrechen des Nationalsozialismus mit seinem Namen und seinem Wirken verbunden. In unserer Sache war es zwingend notwendig, zu recherchieren, woher der „gute Mann“ kommt, damit seine unmenschlichen Taten der Vergangenheit nicht einfach vergessen werden und ungenannt bleiben, wenn sie auch nicht mehr gesühnt werden können. Dr. Waldemar Freienstein starb 1967. In diesem Jahr erfolgte auch die erste Wiederaufnahme der Prozesse der Ärzte, die sich einer Beteiligung an den Euthanasie-Verbrechen in der NS-Zeit schuldig gemacht hatten, vor dem Landgericht in Frankfurt. Auch Freienstein hätte mit einem Wiederaufrollen seines Verfahrens rechnen müssen. Damit wäre sein Image vom „guten Mann“ mehr als hinfällig gewesen.

2. Hatten Sie mit einem solchen „Ergebnis“ gerechnet bzw. es befürchtet?

Nein, mit den Verbrechen in dieser Größenordnung hatten wir nicht gerechnet. Für Kirsten war schon als Kind auffällig, daß über die Zeit vor 1945 des Großvaters Waldemar Freienstein nie gesprochen wurde, während er später, nach seinem Tod mehr oder weniger in Familienanekdoten und Erinnerungen von der Verwandtschaft als Lichtgestalt präsentiert worden ist. Da aber die Familie generell zu Verherrlichung neigte und sich deutlich wahrnehmbar zu einer Elite zählte, schien das nicht ungewöhnlich. Auch die in der Familie aufbewahrten Schriftstücke, Zeugnisse und Urkunden präsentierten nur Freundlichkeiten sowie medizinische und sportliche Bestleistungen über den Großvater. Es hätte aber klar sein müssen, daß Waldemar Freienstein sich auch in der NS-Zeit nicht mit einer kleinen Aufgabe zufriedengegeben hätte, die seinen Ehrgeiz nicht befriedigte. Daß er aber in den verbrecherischen Machenschaften der Nationalsozialisten als Arzt in der Liga fast ganz oben spielte, hat uns dann doch erschreckt. Die Vielzahl seiner Taten war für uns nicht vorhersehbar, wobei wir einiges vermutlich nicht mal aufdecken konnten. Dr. med. Waldemar Freienstein war sich in seinem Entnazifizierungsprozeß sehr sicher, daß nichts Belastendes über ihn gefunden werden könnte. Diese Einschätzung ist glücklicherweise nicht aufgegangen. Bei manchen Unterlagen wird er aber tatsächlich nachgeholfen haben, so daß die Nachwelt in einigen Fällen wohl nichts mehr finden kann.

3. Wenn ein Denkmal  vom Sockel gestoßen wird… Wie waren bislang die Reaktionen auf Ihre Forschungsergebnisse?

Nachforschungen im Rahmen der Familiengeschichte können ja manchmal etwas miteinander Verbindendes haben, wenn man die Forschungsergebnisse, das recherchierte Schicksal einzelner oder allgemein die Lebenssituation der Vorfahren mit anderen Familienangehörigen teilt. Woher kommen wir? Warum sind wir so geworden, wie wir sind? Das sind Fragen, die gelegentlich auch andere Familienmitglieder interessieren – und manchmal auch emotional berühren. Bei Kirstens Familie prallte uns das absolute Gegenteil entgegen. Die ersten, von uns allgemein gehaltenen, Nachfragen wurden von Teilen der Familie noch freundlich und mit den bereits erwähnten, herausgestellten Vorzügen und  Bestleistungen aus dem Leben des Großvaters Freienstein beantwortet. Weitere Anfragen von unserer Seite, indem wir die Familie mit unseren Forschungsergebnissen aus Freiensteins NS-Zeit konfrontierten, sind dann zunehmend schärfer und schließlich gar nicht mehr beantwortet worden. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Kirstens zwei Tanten und ein dazugehöriger Onkel haben den Kontakt zu uns abgebrochen und jedwede weitere Kontaktaufnahme für die Zukunft abgelehnt. Dazu wurden sie uns gegenüber in ihrer Wortwahl in ihren Schreiben teils beleidigend und teils abwertend. 

Ein Zitat aus einem an Kirsten gerichteten Antwortbrief einer Tante macht stellvertretend das ganze Gedankenkonstrukt deutlich. Diese schrieb: „…wen willst Du noch damit treffen, dass unser geliebter Vater Nazi  war?“ Das Andenken des Dr. med. Waldemar Freienstein wird in der Familie weiter hochgehalten und jedwede Kritik an seiner Person wird offenbar als „Nestbeschmutzung“ betrachtet. Obwohl, und das macht uns besonders zu schaffen, einige Familienangehörige schon vor unserer Forschung zu einem Teil über die Vorgänge in der NS-Zeit informiert waren – da mußte offenbar nichts verdrängt werden. Sie bewerten die Machenschaften des Obermedizinalrats Dr. Freienstein historisch, medizinisch und moralisch einfach anders als wir und sind, so stellt es sich dar, bereit über ein paar „unschöne Vorgänge“ in seinem Lebenslauf hinwegzusehen. Er wird schon das Beste für die Kranken gewollt und getan haben. Das Brechen der von Teilen der Familie auferlegten „Schweigepflicht“ ist offenbar ein nicht wiedergutzumachendes Vergehen, da wir, so heißt es, „die Gnade der späten Geburt“ erfahren hätten und nicht wissen würden, wie wir selbst in dieser Zeit gehandelt hätten. Uns stünde ein Urteil einfach nicht zu.

4. Wie schätzen Sie den allgemeinen bzw. historisch-ethischen Stand der Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches ein? 

Wir sind der Meinung, daß die Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches viel zu spät und in den vorangegangenen Jahrzehnten nur sehr halbherzig erfolgt ist. Erst jetzt werden hochbetagte Angehörige der Wachmannschaften eines KZ vor Gericht gestellt. Viele Täter der NS-Zeit sind nicht mehr am Leben und haben ihren Lebensabend unbehelligt verbringen dürfen. Erst jetzt werden die Fragen gestellt, die man längst hätte stellen müssen. Nach dem Krieg und nach dem Abzug der Besatzungsmächte war der Wunsch nach einer selbstregulierenden Entnazifizierung unter der Regie zahlreicher deutscher Spruchkammern nur sehr bedingt vorhanden. Man wollte die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und die eigene Schuld vergessen machen. Da es nicht nur eine Handvoll Haupttäter, sondern eine unübersehbar große Zahl an Mittätern und Unterstützern gab, wurde eine Befreiung vom Nationalsozialismus ad adsurdum geführt und sehr bald auch ganz aufgegeben. Zahlreiche Nationalsozialisten sind so, trotz ihres schweren Strafmaßes und trotz ihrer großen Schuld, letztendlich als minderbelastet freigesprochen worden. Einige haben im nachhinein sogar ihre Pensionsansprüche aus ihren Ämtern in der NS-Zeit geltend gemacht und zugesprochen bekommen. Ein Großteil der hochrangigen Elite der Nationalsozialisten hat sich bereits im Nachkriegsdeutschland durch Selbstmord der Gerichtsbarkeit entzogen, ist untergetaucht, oder hat nachgeholfen, um offiziell bei den Gerichtsprozessen für dauerhaft vernehmungsunfähig oder für haftunfähig zu gelten. Auch bei Dr. Waldemar Freienstein kann nicht ausgeschlossen werden, daß er sein Leben 1967 durch einen unsachgemäßen Umgang mit einem Medikament selbst beendet hat. Zu beweisen ist das aber nicht.

Es wurde von vielen ehemaligen Nationalsozialisten während ihrer eigenen Prozesse an eine Menschlichkeit appelliert, die keiner von ihnen bereit gewesen war, den Menschen in ihrem Machtbereich in der NS-Zeit einzuräumen. So sind viele Prozesse, wegen „Vernehmungsunfähigkeit“ der Angeklagten, gar nicht erst zur Ausführung gelangt und die Taten nicht öffentlich benannt und nicht gesühnt worden. Auch so manche auferlegte Haftstrafe einiger Nazi-Verbrecher ist im nachhinein abgemildert oder aus Krankheitsgründen beendet worden. Das Strafmaß erscheint nur in den wenigsten Fällen wirklich angemessen gewesen zu sein. Letztendlich müssen wir aber sagen, daß das Sterben auf grausamste und unmenschlichste Art so vieler Menschen in der NS-Zeit in keinem Fall mehr der Tat entsprechend aufgearbeitet werden kann. Das Maß an Schuld ist einfach viel zu groß und wird nie getilgt sein werden können.

Doch nicht nur bei den Verfolgungen und Morden, auch in anderen Fällen ist, nach unserer Meinung, viel zu spät mit einer „Wiedergutmachung“ begonnen worden. Obwohl beispielsweise zwangsadoptierte Kinder definitiv Opfer eines nationalsozialistischen Verbrechens waren und sind, wurden sie in Deutschland lange nicht als solche anerkannt. Es würde sich um ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal handeln, so hieß es als Begründung von Absagen nach Anträgen zur Wiedergutmachung nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Das gleiche galt für die als „Asozial“ stigmatisierten Verfolgten des Nationalsozialismus. Schließlich erfolgte, nach jahrelangem Widerspruch unterschiedlicher Initiativen, doch noch eine offizielle Anerkennung als Opfer des NS-Regimes durch den Bundestag im Februar 2020(!) – fast 75 Jahre nach Kriegsende. Ein Großteil der Betroffenen ist allerdings auch hier mittlerweile nicht mehr am Leben. Es gebe noch so viele Fälle aufzuarbeiten und Akten zu sichten, daß das ein Betätigungsfeld für ein Heer von Historikern und Juristen über Jahre wäre…

5. Gibt es möglicherweise Unterschiede in der Aufarbeitung zwischen Ost und West bzw. DDR und BRD?

In der DDR ist möglichst schnell versucht worden, glaubhaft zu machen, daß es im Osten ab 1948 keine Nazis mehr gab, diese alle in den Westen geflüchtet oder konsequent aufgespürt und bestraft worden waren. Unseres Wissens sind über 80.000 Deutsche vom Sowjetischen Militärtribunal als Nationalsozialisten abgeurteilt und zu langjährigen Gefängnisstrafen oder sogar zum Tode verurteilt worden. Teilweise ohne fundierte Beweise. Auch die DDR-Justiz hat im Anschluß an die Arbeit des Militärtribunals zahlreiche „NS-Täter“ abgeurteilt, worunter sich zum Teil auch Mitläufer und Unschuldige befanden.

Uns sind im Rahmen unserer Forschungen Vorgänge bekanntgeworden, die darüber hinaus belegen, daß sichergestellte Akten des Ministeriums für Staatssicherheit in den Westen gebracht wurden, um auch hier dazu zu verhelfen, daß hochrangige Nationalsozialisten durch Zuspielen von Beweismaterial dingfest gemacht werden konnten. Bei dem großangelegten Prozeß gegen den „T4-Obergutachter“ Werner Heyde 1964 in Limburg/Hessen war das beispielsweise der Fall. Heyde entzog sich allerdings ebenfalls durch Selbstmord seinem Prozeß. Auch über Dr. Waldemar Freienstein lagerten, im Zusammenhang mit seinen Machenschaften im Kontext der „Kinderfachabteilung“ in Stadtroda, Akten im MfS. Die durch die NS-Zeit belasteten und in der DDR verbliebenen Ärzte und Ärztinnen, deren Taten u. a. auch aus diesen Akten hervorgehen, sind in der DDR nicht weiter verfolgt worden, da diese Mediziner mittlerweile zum Teil als „Verdiente Ärzte des Volkes“ ausgezeichnet worden waren. An ihren Ruf sollte nicht mehr gerührt werden und so ließ man die Verfolgung auf sich beruhen. Die Untersuchungen zu den Euthanasie-Vorwürfen der Ärztin und emeritierten Professorin Dr. Rosemarie Albrecht gehörten beispielsweise dazu, oder auch der Fall von Dr. Margarethe Hielscher, der medizinischen Leitung der Kinderfachabteilung in Stadtroda. Um Nationalsozialisten in der ehemaligen DDR wieder aufzuspüren, muß man oft viel tiefer graben, weil die „Fähigkeiten“ der ehemaligen Gestapo-Angehörigen auch im Osten bei der Stasi als IM Verwendung fanden und auch hochdekorierte Generäle der Wehrmacht hier im Osten mit anderen Aufgaben betraut, zeitweise neu eingesetzt werden konnten. Man denke beispielsweise an den ehemaligen General der 6. Armee Friedrich Paulus. In den Reihen der SED saßen ebenfalls ehemalige NSDAP-Mitglieder. Nationalsozialisten sind in der ehemaligen DDR zum Teil sehr viel konsequenter verfolgt und härter bestraft worden. Doch ist es für den Forscher auch hier noch immer schwer, zwischen wahrer Aufarbeitung, stillschweigender Nutzung und Propaganda des SED-Regimes zu unterscheiden.