Neue Rezension für „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder von Dr. Mark Benecke

„Ein Buch, das erschüttert!“, so steht auf dem Einband des Buches, und dabei handelt es sich um mehr als nur einen verkaufssteigernder Spruch.

Denn im Gegensatz zu vielen Büchern, die von Serienmördern handeln und meist Außenansichten und Analysen präsentieren, besteht dieses Buch zum Großteil aus Schilderungen des Täters selbst. Hier hingegen lernt der Leser den Täter so kennen, wier er ihn aufgrund von Boulevardzeitungsberichten so nicht erwarten würde: Als Menschen mit Gedanken, Gefühlen und Meinungen – wie andere Menschen auch.

Fernseh- und Zeitungsberichte über Serien-Verbrechen stellen die Täter oft als Gruselmonster dar und vermitteln den Konsumenten das bequeme Gefühl, hierbei handele es sich um Kreaturen, die nichts mit „normalen“ Menschen gemein hätten. Wie schmal die Grenze zwischen Menschen, die für viele unvorstellbar grausame Taten begehen, und denen, die dies nicht tun, in Wirklichkeit ist, das wird dem Leser durch die sehr plastischen Erlebensschilderungen des Täters in Klages‘ Buch unmittelbar deutlich.

Da es sich um einen reinen, echten Brief-Dialog zwischen der Autorin und dem Täter handelt, meint der Leser, mit dem Täter persönlich zu sprechen. Seine Schilderungen von Erinnerungen und Gefühle, von alltäglichen Problemen und Gedanken zu verschiedenen Themen lassen ihn als menschliches Gegenüber erscheinen – ein Gegenüber mit Stärken und Schwächen, mit sympathischen und unsympathischen Eigenschaften.

Das Grauen, welches sich in seinen sexuellen Phantasien und Taten zeigt, steht hier eingebettet in das Gesamtbild eines Menschen, der selbst Opfer von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit wurde, der Ehemann, Vater, Arbeitskollege und Nachbar war. Kein „tobendes Monster aus einer dunklen Höhle“, sondern ein in die Gesellschaft gut integrierter Mann. Ein Mann, der von außen nicht von anderen unterscheidbar war. Und das nicht, weil er sich perfekt tarnte, sondern weil große Anteile seines Erwachsenenlebens eben normal waren.

Eine unbequeme Einsicht, denn wer möchte sich vorstellen, dass der eigene Mann, Bruder, Vater oder beste Freund eine dunkle Seite in sich tragen kann, die sich der Vorstellungskraft der meisten Menschen – zum Glück – vollkommen entzieht. Es gehört zum Wesen des Menschen, seine Umgebung als halbwegs stabil und einschätzbar erleben zu wollen – wie anders könnten Menschen ihre täglichen Aufgaben erfüllen? Hierzu gehört auch der Glaube daran, dass es auf der Welt „gute“ und „böse“ Menschen gibt und dass man selbst und die nächsten Angehörigen in der „Regel“ zu den „Guten“ gehören. Diese Grundüberzeugung wird von Klages Buch zumindest teilweise ins Wanken gebracht.

Sehr plastisch kann der Leser miterleben, wie am Ausgangspunkt der Geschehnisse ein „normales“, wenn auch vernachlässigtes Kind steht. Teilweise für den Leser schmerzhaft ungeschönt wird dargestellt, wie aus einem anfangs Zuneigung und Geborgenheit suchendem Kind zunehmend ein Gewalt und Grausamkeit als selbstverständliche und positive Dinge ansehender, Mitleid hingegen als störende und ausschaltbare Eigenschaft erlebender Erwachsener förmlich gezüchtet wird.

Vieles von dem, was der Täter aus seiner Kindheit berichtet, mag dem Leser im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar erscheinen. Doch die Missbrauchstaten an ihm selbst, von denen der Täter berichtet, sind Dinge, die nachweislich passieren, von denen es umfangreiches Bild- und Filmmaterial auch aus Westeuropa gibt. Dass aus einigen der Opfer später selbst Täter – verschiedener Art – werden, ist ein kriminalistisch und kriminologisch gut untersuchtes Phänomen. Denn außer Frage steht, dass das Erleben von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch in der Kindheit bleibenden Schaden in der Seele eines Menschen hinterlässt.

Genau das versucht Petra Klages mithilfe des ausführlichen Berichtes des Täters zu illustrieren. „Mörder werden nicht geboren, sondern gemacht“ schreibt sie in ihrem Buch, das damit an beispielsweise die Bücher von Paul Moor und Mark Benecke mit Briefen des nach außen ebenfalls gut angepassten Serientäters Jürgen Bartsch steht.

Es geht Klages nicht darum, „grausame Handlungen zu entschuldigen, es geht um Erklärungen für das Geschehene“. Das Ziel des Buches ist es nicht, dem Täter eine „Absolution“ zu erteilen. Seine traumatischen Erlebnisse stellen eine Erklärung für seine gewalttätigen sexuellen Phantasien dar, doch Phantasien zu haben rechtfertigt nie deren Umsetzung. Das wird im Buch deutlich: Es gab Lebensphasen des Täters, in denen er keine gewalttätigen Verhaltensweisen zeigte, somit also ein Leben ohne ausgelebte Gewalt für ihn über längere Zeiträume durchaus möglich war.

Der Text zeigt, dass sich der Täter in jedem einzelnen Fall für das, was er tat, entschied, und diese getroffenen Entscheidungen werden auch von ihm im Kern nichts gerechtfertigt. Dennoch haben die geschilderten Missbrauchserfahrungen die Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften, die zu den Taten führten – allem voran die gewalttätigen Phantasien und das Wegfallen von Mitgefühl – mit großer Wahrscheinlichkeit stark begünstigt.

Das eigentliche Ziel des Buches wird im Nachwort von Regisseur Gunther Scholz klar formuliert: „Dieses Buch könnte helfen, Fehlentwicklungen schon im frühen Stadium zu erkennen. Vielleicht kann es sogar helfen, künftige Verbrechen zu verhindern – auch wenn man das nie erfahren wird.“

Vielleicht wird der ein oder andere Leser durch das Buch sensibilisiert, auffällige Verhaltensweisen eines Kindes in seinem Umfeld wahrzunehmen. Wünschenswert wäre, wenn er dann nicht untätig bleibt, sondern versucht, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen und sich eventuell Rat von Beratungsstellen zu holen. Jeder Einzelne kann sich dafür entscheiden, hinzusehen oder wegzuschauen. Was die Folgen des Wegschauens im Falle von Kindesmissbrauch sein können, das wird in Klages‘ Buch auf ungeschönte, gradlinige und für die Leser zweifellos entsetzliche Weise demonstriert.

Dipl.-Psych. Ewelin Wawrzyniak mit Mark Benecke (5 Sterne)