Der Hof zu Thüringen – Ort der Musen und Kunstbanausen

„Die Wartburg – Musensitz unter Landgraf Hermann I.?“ – so lautete der Titel eines Vortrags, den der Altgermanist Professor Manfred Lemmer von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in den frühen 1990er Jahren auf der Runneburg in Weißensee hielt. Zum Erstaunen aller Zuhörer wies der Philologe den sogenannten „Sängerkrieg“ ins Reich der literarischen Mären. Und ganz nebenbei wurde die Wartburg als Musensitz des Ludowingerfürsten „abgewählt“. Das brachte ihm auf der Runneburg großen Jubel ein. Berechtigten Jubel?

„Wer ein Ohrenleiden hat, der meide den Hof zu Thüringen, denn kommt er dorthin so wird er wahrhaftig taub! Ein Haufen tobt herein, ein anderer heraus und das bei Tag und Nacht.“ Das sagt kein Geringerer als Herr Walther von der Vogelweide, der bedeutendste politische Spruchdichter des deutschen Hochmittelalters, bekanntester Minnesänger deutscher Zunge. Hier soll es aber nicht um Krawallos, Literaturbanausen oder einem verbeamteten ûzgesinde/Ausgesinde (statt Ingesinde) gehen, wie diese Herren vernichtend Herr Wolfram von Eschenbach beschrieb, sondern um die Verortung bzw. Lokalisierung eines – wenn nicht des bedeutendsten hochmittelalterlichen Musenhofes des Heiligen Römischen Reiches.

Herr Walther selbst erwähnt in diesem Zusammenhang die deutscheste der deutschen Burgen – gemeint ist natürlich die Wartburg über Eisenach – nie; das gleich zu Beginn. Er spricht in seinem „Unmutsgedicht“ lediglich vom hof ze Düringen (Hof zu Thüringen) und das kommt nicht von ungefähr, denn der mittelalterliche „Hof“ war dort, wo der Herrscher war. Die Ludowinger waren Herrscher im Sattel, sie regierten als Reiseherrscher, zogen von Burg zu Burg. Das ging von Weißensee, also der Runneburg (wo sie am meisten urkundeten), zur Neuenburg, von dort zur Eckartsburg und wieder zurück nach Weißensee und ab und an nach Eisenach und auch auf die Wartburg. Vereinzelt zog man ins Heilige Land, starb dort oder auf dem Weg dorthin oder kehrte auch zurück. Ihr Herrschaftsgebiet war zersplittert, Städte kamen hinzu; als Hauskloster fungierte Reinhardsbrunn.

Hermann, die thüringische Blume, die durch den Schnee scheint (Walther von der Vogelweide) und sein „Musenhof“ urkundete besonders oft in Weißensee, was die Historiker schon lange wissen; für die Wartburg hingegen ist kein urkundliches Material aus seiner Zeit bekannt. Der Autor selbst bestätigte mehrfach Weißensees Bedeutung unter Landgraf Hermann I., sei es im Zusammenhang mit seiner bedeutenden Mutter, der Landgräfin Jutta, Halbschwester Barbarossas, dem staufisch-welfischen Thronstreit oder später unter Landgraf Ludwig dem Heiligen, der in Weißensee seine Stiftungen zugunsten des Deutschen Ordens beurkundete. Auch die Neuenburg darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, denn dorthin lud der literaturbegeisterte Hermann den ersten „Romancier Deutschlands“ Herrn Heinrich von Veldeke zur Vollendung seiner „Eneide“ ein.

Wie also kann man angesichts solch erschlagender Tatsachen den Musenhof auf die Wartburg verorten? Zuerst wären da plumpe Übersetzungsfehler zu nennen und mancher Germanist übersetzte Walthers Hof zu Thüringen einfach mit Wartburg. Man folgte damit schon der landläufigen Meinung, dass offensichtlich die Wartburg gleich einer Residenz auch der Musenhof gewesen sein müsse. Ein Trugschluss! Sieht man sich allein die bebauten Innenflächen der Ludowingerburgen an, findet man die Höhenburg über Eisenach auf den hinteren Rängen, die Runneburg könnte drei Wartburgen in ihrer Ringmauer fassen. Burgenforscher sehen in der Wartburg schon lange keine Residenz mehr, denn die Herrscher des Mittelalters regierten nicht von Residenzen aus. Die herrlich inmitten eines jagdbaren Waldes gelegene Wartburg mag wohl in hochmittelalterlicher Zeit als Jagdburg gedient haben, aber als einziger Regierungsort wohl kaum. Habe ich Weißensee, habe ich Thüringen, so schreibt es sinngemäß Kaiser Otto IV. im Heerlager vor Weißensee 1212.

Früher brachte man zudem den Palas mit seinem prächtigen Saal als einzigen Ort für ein wie auch immer geartetes mittelalterliches Literaturspektakel ins Spiel – den hat die Runneburg aber auch. Und überhaupt, wie wollte man 100 oder gar 200 Pferde samt Reiter während einer Dichterlesung Walthers oder einer Lesung Wolframs oder gar einer ganzen Meute von Dichtern auf der Wartburg unterbringen? Eher doch im Eisenacher Hof, den der Eschenbacher tatsächlich nennt. Aber auf der Wartburg? Da fragt man sich, wie kamen die Gäste zur Burg hinauf? Merkwürdige Frage – natürlich mit den Eseln…

Es wird Zeit, die Schraube richtig festzudrehen. Es gibt nichts Schöneres als Legenden zu zerfetzen, so drückte es mein alter Lehrer, der Altgermanist Prof. Manfred Lemmer, im Burgkeller unter dem prachtvollen romanischen Palas der Runneburg aus. Und wie man sich unschwer vorstellen kann, war er bei den ausgrabenden Studenten unter dem Archäologen und Retter der Runneburg Thomas Stolle einer der beliebtesten Gäste. Nach Manfred Lemmer gibt es keinen Beleg für einen Musensitz während der Regentschaft des literaturbegeisterten Hermann, wohl aber eine nicht unbedeutende Zahl von Indizien dagegen! In das Horn will ich nun auch kräftig stoßen! Denn wenn man sich unbeliebt macht, dann schon richtig. Kommen wir zum Sängerkrieg/Wartburgkrieg, dem die Burg über Eisenach erst ihren Ruf als Musenhof zur Zeit Hermanns I. verdankt. Es ist nur eine sehr gut erfundene Geschichte, eine Liedersammlung, angelegt um 1240, leider nichts weiter, mit der dem literarischen Mäzenatentum Hermanns ein Denkmal errichtet und „zugleich der Gilde der (thüringischen) Sangesmeister nachklassischer Zeit der hohe Glanz einer literarischen Tradition verliehen werden sollte“ (Manfred Lemmer). Erst in der Strophe 34 im „Rätselspiel“ des „Sängerkrieges“ wird die Wartburg als Austragungsort des Kampfes zwischen Klingsor und Wolfram genannt. Das ist ein bisschen wenig.

Kommen wir in diesem Zusammenhang zu Wolfram. Auch ein Wolfram von Eschenbach, ebenfalls in Thüringen nachweisbar, beschert den wartburgaffinen Literaturfreunden Kopf- und Bauchschmerzen, denn er nennt die Wartburg ebenfalls nicht. Stattdessen setzt er der neuen Kriegsmaschine des Kaisers, dem drîboc (einer gewaltigen Steinschleuder), im „Willehalm“ ein literarisches Denkmal. Jenes teuflische Werkzeug kam aber nicht gegen die Wartburg, sondern gegen die Burg am Weißen See zum Einsatz. Wieder nicht die Wartburg! Das ist bitter, aber kein Beinbruch. Denn noch immer wird auch in neueren Publikationen eifriger „Thüringenkenner“ die Wartburg als Musenhof und Austragungsort des Sängerkrieges propagiert. Aber als ehemaliger Burgmanne der Runneburg in Weißensee musste ich diese Zeilen einmal loswerden und anders als der Löwe auf dem Schwindschen Wandbild, werde ich keinen Knicks vor einer literaturhistorischen Verzerrung machen.

Doch was bringt es, der Wartburg als der deutschesten Burg den Rang als Musenhof streitig zu machen? Nichts. Warum zerfetzt man dann die Legende? Weil es der literaturhistorischen Wahrheit dient. Aber wen interessiert die?