Ein Thüringer als Bücherdieb

Am Anfang der thüringischen Literaturgeschichte steht ein unerhörter, ja mehr als dreister Diebstahl. Verbittert beschwert sich Meister Heinrich von Veldeke über Graf Heinrich, einen adligen Bücherdieb, in seinem Eneas-Roman, der vom trojanischen Helden Aeneas berichtet, dessen Affäre mit der schönen karthagischen Königin Dido, dem dramatischen Ende der Liasion und allerlei anderen Aventiuren. Erleuchtet aber bis heute der Name Heinrich von Veldeke die frühe deutsche Literaturgeschichte, bleibt der Bücherdieb zumeist im dunkeln.1 Zu Unrecht, denn es handelt sich bei dem Täter nicht um einen dahergelaufenen Kleinkriminellen sondern um einen hochadeligen Bücherfreund!

Heinrich von Veldeke ist zweifellos bekannt, wenngleich wir biografische Notizen nur aus dem Werk des Dichters oder Erwähnungen zu seiner Person bei „Dichterkollegen“ kennen. Urkundlich oder chronikalisch ist er nicht faßbar. Um 1140 wurde er als Sohn eines Ministerialen geboren, der im Dienst der Grafen von Loon stand. Gräfin Agnes von Loon war auch eine seiner Gönnerinnen, auf deren Anregung er vor 1170 die Servatius-Legende bearbeitete. Heinrich dürfte eine solide, höhere Ausbildung genossen haben, ein gebildeter, intelligenter, dichtender Kopf. Als Lyriker sind von ihm 30 Minnelieder überliefert, als Epiker wird er mit seinem Eneas-Roman zum Begründer des mittelhochdeutschen höfischen „Romans“. Bis 1174 waren zwei Drittel der 13500 Verse niedergeschrieben – wahrscheinlich sogar durch ihn selbst. Seinen Tod um 1200 beklagen viele, auch Wolfram von Eschenbach.

Wer aber war dieser Bücherdieb, dieser Graf Heinrich? Ein Thüringer! Geboren um 1155 als Sohn des „eisernen“ Landgrafen Ludwig (II.) und der Landgräfin Jutta Claricia von Staufen. Entstammte der Vater dem Hochadelsgeschlecht der mainfränkischen Ludowinger, deren literarischer Musenhof zu Beginn des 13. Jahrhunderts die größten Epiker und Lyriker des Reiches an sich ziehen sollte, war die Mutter eine (Halb)schwester Kaiser Friedrich I. Barbarossas. Heinrich, als Zweitgeborener, erhielt einen Grafentitel mit dem Herrschaftsanspruch auf Teile Hessens. Sein Bruder Ludwig (III.) wurde nach des Vaters Tod 1172 Landgraf von Thüringen.

Heinrich scheint sich in ritterliche Abenteuer gestürzt zu haben, wie viele junge adlige Draufgänger seiner Zeit. Er erhielt traditionsgemäß den wenig schmeichelhaften Beinamen Raspo oder Raspe, was soviel bedeutet wie Raufbold. Aber dieser Raufbold sollte in der deutschen Literaturgeschichte einen interessanten, wenngleich etwas unrühmlichen Platz einnehmen.

Auf der Hochzeit seines Bruders Ludwig mit der Gräfin Margarethe von Kleve im Jahre 1174 (ein genaueres Datum kennen wir leider nicht) läßt er durch einen Getreuen ein Buch stehlen.2 Aus heutiger Sicht vielleicht nichts Ungewöhnliches oder besonders Erwähnenswertes, wenn es sich bei diesem Exemplar nicht um das Meisterwerk des größten deutschen Epikers des 12. Jahrhunderts, Heinrich von Veldeke, gehandelt hätte.

Der hatte sein in großen Teilen auf Vergils „Aeneas“ beruhendes, relativ schnell fertiggestelltes Manuskript (ein im „Eigenverlag“ prodziertes Einzelstück) der Gräfin als „Leseexemplar“ zukommenlassen. Warum Meister Veldeke nicht selbst aus seinem Werk vorlas, was bei einer so finanziell potenten Dame und Förderin wie der Gräfin Margartete zu erwarten wäre, konnte bisher nicht zufriedenstellend geklärt werden. Doch mittlerweile lassen sich in den Regesta Imperii, den Reichsregesten, die nun vollständig online zur Verfügung stehen, dazu interessante Beobachtungen anstellen und Rückschlüsse ziehen.

Meister Heinrich saß zwischen zwei Stühlen! Einerseits war da die Hochzeit seiner Gönnerin Margarete von Kleve, auf der er aus seinem Roman (vor einem zahlungskräftigen Publikum) hätte vortragen können, andererseits hofften seine Loonschen Lehensherren auf einen Richtspruch des Kaisers, der für den 11. April in Maastricht nachweisbar ist und wo man den klugen Herrn von Veldeke wahrscheinlich als Ratgeber brauchte. Kleve und Maastricht liegen rund zwanzig Meilen (etwa 150 Kilometer) auseinander. Meister Heinrich könnte als Lehensnehmer der Grafen von Loon in der Pflicht gestanden haben. Seine Lehensherren klagten vor keinem Geringeren als Kaiser Friedrich Barbarossa. Kurzum überließ er sein Manuskript der Klevischen Gräfin, die mit dieser Art und Weise des Arrangements offensichtlich zufrieden schien. Jedenfalls hören wir nichts Gegenteiliges.

Ob aus dem Manuskript tatsächlich während der Hochzeitsfeiern vorgelesen wurde, muß dahingestellt bleiben. Nicht unüblich war es, das Vortragen der mit reichlich Schlachtenlärm gefüllten Epen redegewandten Kollegen zu überlassen oder zu übertragen. Die Athmosphäre bei einer mittelalterlichen „Buchlesung“ muß mehr als archaisch gewesen sein. Man stelle sich nur die tiefe, angenehme, kräftige Stimme eines Vorlesers oder Vortragenden mit Harfenbegleitung vor, der in bestem Mittelhochdeutsch mit rauhen Kehllauten vom Untergang der Nibelungen oder Markgraf Rolands erzählt. Noch heute lesen Schauspieler mit markanter Stimme so manches Literarische, was den Hörbuchproduktionen deutlich zugute kommt.

Doch zurück zu unserem Bücherdieb. Über eine Hofdame – offensichtlich keine ausgebildete Bibliothekarin – der das Manuskript anvertraut worden war, kommt der Thüringer Raufbold in den Besitz des Buches.

Solch ein Manuskript war äußerst wertvoll, nicht nur im literarischen Sinne, sondern auch im materiellen, denn es bestand aus dutzenden Pergamentseiten und die waren sehr teuer. Gräfin Margarethe beschwert sich bitter über den gräflichen Bücherdieb, aber auch ihr Mann, der ansonsten unerschrockene und schwertgewaltige Landgraf Ludwig, hat in diesem Fall früher Raubkunst offensichtlich gegen seinen literaturbegeisterten Bruder nicht viel in der Hand.

Graf Heinrich der Raufbold bleibt seinem Lebensstil treu: bewähre dich als Ritter, liebe die Frauen – und die Literatur. Also macht sich Meister Heinrich von Veldeke selbst auf die Suche nach seinem Buch.

In der Zwischenzeit entlädt sich im Deutschen Reich der angestaute Kampf der beiden großen Geschlechter Staufer und Welfen. Die Ludowinger, Lehensträger des Kaisers, stellen sich Heinrich dem Löwen in den Weg. Bei der landgräflichen Runneburg in Weißensee kommt es im Mai 1180 zu einer gewaltigen Ritterschlacht. Graf Heinrich kämpft an der Seite seines Bruders, verläßt aber schwerverletzt die Schlachtstätte. Auf dem Sterbelager am 18. Juli 1174 diktiert er sein Testament, in dem vermutlich auch das Buch eine Rolle spielt. Graf Heinrich vermacht das Manuskript seinem literaturbegeisterten Bruder Hermann, der zehn Jahre später als Landgraf von Thüringen und großer Förderer der Dichter in die deutsche Literaturgeschichte eingehen sollte.

Hermann ruft bereits 1183 Meister Veldeke nach Thüringen und lädt ihn ein, hier die „Eneide“ zu vollenden. So kann der erste deutsche „Roman“ doch noch abgeschlossen werden. Heinrich von Veldeke genießt fortan die Mäzenatenschaft des Thüringer Fürsten auf der Neuenburg. Sein Leben und Werk strahlt nicht nur auf den jungen Landgrafen, sondern auf alle Dichter des Reiches aus. So kommen in den folgenden Jahren Männer wie Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide an den ludowingischen Musenhof und erheben ihn und seinen Fürsten zu einer literarischen Blume, die durch den Schnee scheint.

Zahlreiche Bücher entstehen am Landgrafenhof und es wächst wohl damit eine erste thüringische „Staatsbibliothek“ heran, wenngleich Landgraf Hermann wohl eher als Bibliophile zu verstehen ist. Dennoch: Aus seiner Bibliothek ist kein Bücherdiebstahl bekannt und so soll uns der erste Bücherdiebstahl auf deutschem Boden, ausgeführt von einem Thüringer Literaturfreund ermahnen, wie wichtig eine gut sortierte und geführte Bibliothek ist. Denn zweifellos wäre es dem Thüringer Raufbold nicht gelungen, wenn statt einer einfältigen klevischen Edeldame eine Bibliothekarin über die Bücher der Gräfin Margarete gewacht hätte.

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Der Beitrag fußt auf einem kleinen Festvortrag, den der Autor anläßlich des 20jährigen Bestehens der Stadt- und Kreisbibliothek Arnstadt im April 2014 gehalten hat.

2 Ich würde diese Heldentat dem Grafen Engelbert von Berg zutrauen, denn dieser schwor am 24. März 1174 dem Raufbold Heinrich als Grafen in Hessen auf einem Reichstag im Beisein in Aachen und mit Bestätigung des Kaisers unbedingte Treue gegen jedermann (ausgenommen war nur der Kaiser und der Erzbischof von Köln). Im Gegenzug belehnte Graf Heinrich den Grafen Engelbert mit der neuen Burg Windeck. Auf diesem Aachener Reichstag findet sich auch Landgraf Ludwig.