Der „tugendhafte Schreiber“ in Fußeisen – Aus dem bewegten Leben des Schreibers Heinrich von Weißensee

Miniatur aus dem Codex Manesse, fol. 305r

Frage einen guten Mann nie, woher er kommt, heißt es. Anders formuliert könnte man sagen, in jeder Biografie findet sich ein schwarzer Fleck.

Sicherlich, die Bilder der Großen Heidelberger Liederhandschrift (der Codex Manesse), zu der man kaum noch viel zu sagen braucht, so berühmt sind die farbigen Miniaturen, geben so manches Rätsel auf, warum allerdings ausgerechnet der tugendhafte Schreiber in Ketten oder noch genauer gesagt, in Fußeisen dargestellt wird, erscheint doch recht rätselhaft. Aber jedes Rätsel läßt sich lösen.

Da stellt sich zuerst die Frage: Wer war eigentlich dieser tugendhafte Schreiber? Die Germanistik ist sich da nicht ganz sicher, sieht aber in ihm Heinrich von Weißensee, Protonotarius am Hof der Landgrafen von Thüringen, der zwischen 1208 und 1244 als Henricus scriptor, notarius und protonotarius für die Kanzleien der Landgrafen Hermann des Dichtermäzens (1155-1217), gestorben in geistiger Umnachtung, Ludwig II., des Gemahls der hl. Elisabeth (1200-1227) und Heinrich Raspe IV. (1204-1247), des späteren Königs, nachweisbar ist. Also ein höchst gebildeter Mann, im ritterlichen Stande und im deutlichen Unterschied zu den anderen Rittersleuten am Ludowingerhof, die offensichtlich ohne Bildung und ohne gute Manieren daherkamen und die nach dem vernichtenden Urteil eines Walthers von der Vogelweide eher Ausgesinde als Ingesinde genannt werden müßten. Edmund Theodor Schneidewind sieht ihn in Weißensee, der alten ehrwürdigen Landgrafenstadt, geboren, ohne daß wir wissen in welchem Jahre. Sollte er seine erste Urkunde 1208 mit 20 Jahren aufgesetzt haben? Oder doch erst mit 30? Spekulation. Seine letzte Urkunde datiert 1244.

Dieser Heinrich begegnet uns fünfmal im Wartburgkrieg, von Anbeginn an an der Seite Walthers von der Vogelweide. Zweimal stellt er sich selbst als der tugendhafte Schreiber vor. Genau wie Walther widert ihn das lärmende Hoftreiben an. Nach dem Germanisten Manfred Lemmer zielt der Beiname offenbar auf seine poetischen Fähigkeiten, was so viel heißt: Er konnte sogar dichten! Und das recht kunstfertig! Ob dieser Heinrich einst Beziehungen zum Hof der Grafen von Henneberg hatte, scheint möglich. In der Totenfeier des Wartburgkrieges tritt er jedenfalls als hennebergischer Lobredner auf und sagt: der milte von Henneberch, der tugent begienc, von synen genadhen ich myne ritterscaft vntfienc (Der freigiebige Graf von Henneberg, stets hat er edel gehandelt. Durch seine Huld bin ich zum Ritter geweiht worden). Das soll in Maßfeld an der Werra gewesen sein, wo laut Wartburgkrieg angeblich auch Wolfram von Eschenbach vom Henneberger den Rittergürtel empfangen hat.

Vom tugendhaften Schreiber sind elf Lieder und eine Spruchfolge überliefert. Seine Lieder sind alle der hohen Minne gewidmet. Ein kleine Kostprobe soll das zeigen: sî [die Dame] ist mîns herzen künigin und ich ir lobes staeter dienestman (sie ist die Königin meines Herzens und ich ihr Vasall, der unverbrüchlich ihr Lob singt – Übersetzung v. Manfred Lemmer).

Die Germanistin Stephanie Seidl beschreibt es fachfraulich so: Die Kanzonen sind formal aufwändig gestaltet, weisen mehrfach daktylischen Rhythmus auf und sind durch häufige Responsionsreime markiert. Genau.

Doch wir wollen hier nicht den Germanisten ins Handwerk pfuschen oder gar das Werk des Dichters beurteilen. Die Meinungen gehen auch hier weit auseinander. De Boor spricht herablassend von zierlichen und freundlichen Liedchen, dagegen zeichnen sich die Lieder für Reinhard Hahn durch eine kunstvolle Reimgestaltung aus und enthalten deutliche Anklänge an Morungen. Und auch mein Lehrer, der Altgermanist Manfred Lemmer, hielt seine Lieder für gefällig und in der Form anspruchsvoll bis virtuos. Im Sängerwettstreit sehen wir ihn jedenfalls von Beginn an neben Herrn Walther von der Vogelweide. Ist es Kitsch, wenn ein Sänger über die Einsamkeit der Nachtigall im Walde singt und diese mit dem Sänger vergleicht, der vergeblich bei seiner Herrin um Gehör ringt? Literatur ist Geschmacksache.

Doch warum steckt der tugendhafte Mann in Fußeisen?

Reinhard Hahn bietet eine Deutung der rätselhaften Miniatur an. Das Dichterbild des Codex Manesse, das den Dichter mit angelegten Fußfesseln zeigt, ist vielleicht gar nicht so rätselhaft, wie man meinte, sondern vom Maler aus den Eingangsversen von Lied III entwickelt: Einst war die Liebe so kostbar, dass man sie für Geld nicht zu erlangen vermochte.

Ja, das ist ein schöner Deutungsversuch, lyrisch möchte man sagen! Aber ich halte profan folgende Variante dagegen: Zweifellos ist jener Notarius ein begnadeter wichtiger Mann am Landgrafenhof, und er kann nicht nur dichten, er avanciert in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum Protonotarius. Aber was, wenn der umtriebige Literaturagent des Herrn Manesse eine ganz andere Geschichte zu hören bekam?

Sehen wir einmal in die Chronik von St. Peter zu Erfurt: Als Landgraf Hermann sich im staufisch-welfischen Thronstreit gegen König Philipp von Schwaben wandte, steckte er 1204 eine derbe Niederlage ein. Weißensee wurde sechs Wochen belagert, das Entsatzheer aus Böhmen war zwar im Plündern eifrig aber nicht in der Unterstützung der Thüringer. Zu Ichtershausen tat der kunstsinnige Landgraf im September 1204 den Kniefall. Und er mußte Geiseln stellen, darunter sogar seinen Sohn! Solche Geiseln waren nach mittelalterlichem Brauch keine armen Schlucker, sondern, der Sache geschuldet, engste Familienangehörige und zuhöchst wichtige Leute aus dem Umfeld des Geiselstellers. Dabei kann es sich um den gleichnamigen Sohn handeln oder um Ludwig, den späteren Ehemann der heiligen Elisabeth. Sollte unser tugendhafter Schreiber Heinrich zu diesen Geiseln gezählt haben? Ein junger Ritter, ein zukünftiger Notarius als kluger und zuverlässiger Begleiter für den Landgrafensohn in der fernen Geiselhaft? Eine sinnige Erklärung.

Das Bild im Codex Manesse läßt keinen Zweifel an der hohen, würdevollen Persönlichkeit des Schreibers aufkommen, der im edelsten Gewand erhöht sitzt. Und die Szene mit der Auslösung spricht Bände. Sie schreit uns förmlich an: Diesen Mann wollen wir zurückhaben, und zwar nicht aus einer Schuldknechtschaft (!), sondern aus der Geiselhaft. Das Silber wurde abgewogen, hier würde man nicht sparen, suggeriert das Bild, um den Mann in Fußeisen loszueisen. Keine Summe scheint zu hoch für diesen wichtigen, loyalen Mann. Merkwürdig auch, daß Heinrich im Jahr des Todes König Philipps 1208 erstmalig als Notarius auftritt. Es scheint nicht unmöglich, daß der Landgrafensohn und der zukünftige Kanzler nach dem Tod des Königs aus der Geiselhaft entlassen wurden. Das war im Mittelalter durchaus üblich.

Damit wäre der vermeintlich schwarze Fleck in der Biografie des tugendhaften Schreibers Heinrich getilgt, geweißt. Denn hier steht kein Schuldner vor uns, sondern ein Mann, der sein Leben in den Dienst Thüringens stellte, der treu dem Landgrafenhaus diente und für diese Treue löste man ihn aus, um jeden Preis.

Anders als der junge Ödipus jedoch, der das Rätsel der Sphinx auflöste, müssen wir an dieser Stelle zähneknirschend und kleinlaut zugeben, daß hier nur eine weitere, allerdings schöne, ernstzunehmende und plausible Hypothese geboren wurde. Und all denen, die mir nicht folgen wollen, sei gesagt, ihr müßt mir erst einmal das Gegenteil beweisen.